Hamburg. 16 Jahre nach seinem Weggang dirigiert der frühere Hamburger Generalmusikdirektor am Sonnabend im Livestream die Philharmoniker.
Das Philharmonische Staatsorchester zu dirigieren sei wie Fahrradfahren, unverlernbar also? So wäre das nun doch nicht, amüsiert sich Ingo Metzmacher in der menschenleeren Cafeteria. „Die Hälfte der Gesichter erkenne ich noch“, berichtet der Ex-Generalmusikdirektor entspannt, „das Orchester klingt gut, es ist ein sehr angenehmes Arbeiten.“
16 Jahre sind vergangen. Bewegte, bewegende, lehrreiche, prägende, aufregende, beileibe nicht immer konfliktarme acht Dienstjahre waren das gewesen. Metzmacher wollte viel und bekam nicht alles. Die Wunden sind verheilt, mehr Haare als damals sind grau. Das Leben ging ja weiter. Nun ist er also wieder da. Kein Fremdeln, kein verlegenes Einstiegs-Hüsteln beim ersten Einsatz. „Total low key, ich kam, und wir haben begonnen. Völlig unbelastet.“
Das eine oder andere Gastdirigat in der Elbphilharmonie gab es, mit den Wiener Philharmonikern und dem NDR-Orchester. Zweite Wiener Schule, Schostakowitsch-Sinfonien. Großes Besteck. Jetzt aber, Corona-bedingt, ein kleineres, fein gewirktes Sortiment, eine kluge Abwägung aus Kammermusik, Streichern und Bläsern; ein Mix aus dem, was geht, und dem, was sein muss. Zu erleben an diesem Sonnabend um 20 Uhr im Livestream und danach auf Abruf.
Metzmacher dirigiert in der Elbphilharmonie Webern, Schostakowitsch und Eisler
Typischer Metzmacher. Oberflächlich schon eigen, aber darunter erst: etliche Querverbindungen für Dramaturgie-Feinschmecker tun sich auf. „Unterirdische Kanäle“ nennt er dieses Beziehungsgeflecht.
Zunächst Weberns Bearbeitung von einem Abschnitt aus Bachs „Kunst der Fuge“, dessen letztem Werk. Danach die Kammerorchester-Version von Schostakowitschs 8. Streichquartett, seinem extrem bekennenden Bekenntniswerk. Und wie Bach sein B-A-C-H in Stücken verewigte, signierte auch Dmitri Schostakowitsch gern, nur eben mit D-S-C-H, und schrieb drumherum dieses Stück Auseinandersetzung mit seiner Moral und den realpolitischen Überlebenskämpfen, die er in der Sowjetunion durchlitt.
Dann: Eislers „Letzte Gesänge“ mit dem Bariton Georg Nigl. Das nächste letzte Stück, eines hochpolitischen Komponisten, der wie Webern ein Schönberg-Schüler war und mit Brecht gearbeitet hat. Und das hatte auch Kurt Weill, von dem die „Kleine Dreigroschenmusik für Blasorchester“ das Angebot abrundet, unter anderem mit einem Choral, die kleine Rolle wieder rückwärts zu Bach.
Metzmachers letzte Monate waren speziell
Leerer Saal, Kameras drumherum statt Publikum als Energielieferant – das kennt Metzmacher inzwischen, er hatte solche Geister-Spiele beim SWR und dem ORF. „Ein Publikum hat immer Einfluss auf ein gutes Konzert, in einem leeren Saal findet das nicht statt. Es fehlt was. Ist jetzt nun mal so.“
Die Beschränkung auf kleinere Besetzungen, der Verzicht auf den Klangdruck des Ü-100-Repertoires, für ihn ist das kein Problem. Seine Karriere begann beim Ensemble Modern, 15 Instrumente, das prägte.
Metzmachers letzten Monate waren speziell, aber anders als vermutet. Als Corona begann, lief bereits ein Sabbatical. Bücher, Familienleben, „sich als Mensch selbst zu begegnen, ohne dass man Dirigent ist. Das habe ich ganz gut gelernt, deswegen finde ich es nun nicht so schlimm.“
Metzmachers Hamburg-Comeback als Erlebnisreise
Dieser Prozess wurde also verlängert. Etwa ein Konzert im Monat, mehr soll gerade nicht sein. „Ich passe auf, dass der Kalender nicht zu sehr zuwächst.“ Demnächst Enescus Oper „Œdipe“ in Paris, im Sommer Nonos „Intolleranza“ in Salzburg, so etwas. Dosierter Stress, das ja, aber auf die Vorlieben abgestimmt, wie der Intendantenposten bei den KunstFestSpielen Herrenhausen in der alten Heimat Hannover.
Wissenswertes zur Elbphilharmonie:
- Die Elbphilharmonie ist ein Konzerthaus, das als neues Wahrzeichen von Hamburg gilt
- Sie wurde im Januar 2017 offiziell eröffnet
- Das 110 Meter hohe Gebäude liegt in der HafenCity in Hamburg und soll mit seiner Form an Wellen, Segel und Eisberge erinnern
- Wo heute die Elbphilharmonie steht, befand sich früher der Kaiserspeicher A
- Das Konzept der Elbphilharmonie stammt von Projektentwickler Alexander Gérard und wurde bereits 2001 vorgestellt. Der Bau dauerte von 2007 bis Ende 2016
- Die Baukosten betrugen 866 Millionen Euro
Bleibt nur noch zu klären, wie er sein Comeback hier dringend empfehlen würde: „Weil es eine Reise ist. Eine Erlebnisreise. Ich mag keine Programme ohne Sensibilität. Musik lebt davon, dass Klänge aufeinander reagieren.“