hamburg. Das Museum für Hamburgische Geschichte stellt Ergun Çağatays Bildreportage „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990“ aus.

1990 bricht der Istanbuler Fotograf Ergun Çağatay zu einer ganz besonderen Deutschlandreise auf: Sein sechswöchiger Trip führt ihn durch die Städte Hamburg, Berlin, Köln, Werl und Duisburg. Sein Plan ist ambitioniert: Çağatay will die Migration aus dem globalen Süden in den globalen Norden dokumentieren, sehen, ob und inwieweit Integration gelungen ist. Mit einer Spiegelreflexkamera und je einer Gürteltasche für Farb- und Schwarz-Weiß-Filme (typisch für die Fotografie der 1990er-Jahre) porträtiert er die damals sogenannten Gastarbeiterinnen und -arbeiter aus der Türkei, von denen viele blieben und die deutsche Staatsbürgerschaft annahmen.

Der Bildjournalist, der für Agenturen und internationale Magazine arbeitet, fotografiert seine Landsleute in Fabriken und Büros, Obst- und Lebensmittelläden, im Stahlbau, in der Zeche, in Cafés und Moscheen. Am Ende wird er sogar in ihre Wohnzimmer eingeladen.

Deutschland auf dem Weg zur multikulturellen Gesellschaft

Seine zum Teil schnappschussartigen, dokumentarischen und dann wieder sehr inszenierten Bilder zeugen von einer großen Nähe des Fotografen zu den Porträtierten, diese blicken offen in die Kamera und gewähren private Momente ihres alltäglichen Lebens. Sei es bei einer Hochzeitsfeier mit Bauchtanz oder während einer Demonstration gegen verschärfte Ausländergesetze.

Sein ursprünglich auf zehn Jahre angelegtes Projekt fand nach der sechswöchigen Städtereise ein jähes Ende; Çağatays Fotoagentur Gamma, die ihn finanziell unterstützt hatte, beendete ihr Engagement. Und so verabschiedete sich auch der Fotograf von seiner ursprünglich kühnen Idee, die über 3000 Aufnahmen blieben ein quasi unveröffentlichtes Fragment. Bis 2021.

Fotoausstellung im Ruhr Museum Essen zeigte zuerst die 120 Fotografien

Das Ruhr Museum in Essen zeigte als erstes Haus die 120 Fotografien umfassende Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990“. Als zweite Station ist die wohl umfangreichste Bildreportage zu diesem Thema nun im Museum für Hamburgische Geschichte (MHG) zu sehen. Pünktlich zum 60. Jahrestag des Abwerbeabkommens zwischen Bonn und Ankara. Ein Zusammenschluss von Ruhr Museum, Stadtmuseum Berlin und der Stiftung Historische Museen Hamburg entwickelte die Idee dazu und entschloss sich, das gesamte Konvolut Çağatays Sohn abzukaufen. Der Fotograf selbst hat diese Ehrung nicht mehr miterlebt: Er starb 2018 mit 81 Jahren.

Dem Kunsthistoriker Peter Stepan ist es zu verdanken, dass dieser historische Schatz überhaupt wiederentdeckt wurde. Nicht nur steht das Jahr 1990 für die Wende in der deutsch-deutschen Geschichte; es ist im Rückblick betrachtet auch eine Zäsur auf dem Weg Deutschlands in eine multikulturelle Gesellschaft. Die Ausstellung sei „eine Momentaufnahme zur richtigen Zeit, da unsere Gesellschaft immer diverser wird“, sagt Bettina Probst, Direktorin am MHG. „Die Bilder zeugen von einer Lebenswirklichkeit ganz unterschiedlicher Menschen, an ihnen lassen sich Hoffnungen, Wünsche, aber auch Verzweiflung ablesen.“ Der Aspekt der Migration sei bisher viel zu kurz gekommen, die Ausstellung sei eine Würdigung von Çağatays Arbeit und eine Aufforderung, „richtig hinzugucken“.

Harte Arbeiter und doch Menschen zweiter Klasse

Auch die Kuratorinnen der Ausstellung, Stefanie Grebe und Meltem Küçükyılmaz, erhoffen sich, darüber in Kontakt mit Besucherinnen und Besuchern zu kommen, die ihrerseits Stadtgeschichte(n) zu erzählen haben. Somit wäre „Wir sind von hier“ eine lebendige, sich ständig erweiternde Schau. Die Bildreportage von Ergun Çağatay baue „wertvolle Brücken“, sagt Kultursenator Carsten Brosda. „Sie füllt die Entwicklung mit Leben, mit echten Gesichtern und Geschichten. Eindrucksvoll gelingt es im Museum für Hamburgische Geschichte so, Erinnerungsorte deutsch-türkischer Geschichte sichtbar zu machen und sie ins Bewusstsein zu rücken.“

Die geschlossene Gesellschaft eines Männercafés, in dem Karten gespielt und Tee getrunken wird, oder, auf der anderen Seite, Kopftuch und schwere Einkaufstüten tragende Frauen auf der Straße unter sich – unter den 120 Fotografien sind auch einige allzu bekannte Motive zu finden, die sich zu Klischees entwickelt haben. Und beim Betrachten der Bilder stellt sich automatisch die Frage, inwieweit Integration überhaupt unter den damaligen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen gelingen konnte und sollte.

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Ergun Çağatay hatte am Ende seines Projekts keine Antwort auf diese große Frage. Von ihm ist lediglich ein Zitat dazu überliefert, es stammt aus seiner Berliner Zeit, in der er unter anderem die Jugendgang „36 Boys“ aus Kreuzberg traf und fotografierte. „Sie taten mir einfach leid. Diesem Land war es nicht gelungen, ihnen ein anständiges Leben zu ermöglichen. Sie arbeiteten hart – und blieben Menschen zweiter Klasse. Unter den ‘36 Boys’ war nur ein einziger, der aufs Gymnasium ging. Aufgabe der Politik wäre es, den Menschen die Gelegenheit zu bieten, zu zeigen, was in ihnen steckt.“

„Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990“ 4.2.-6.6., Museum für Hamburgische Geschichte (U St. Pauli), Holstenwall 24, Mo, Mi-Fr 10.00-17.00, Sa/So 10.00-18.00, Eintritt 9,50/6,- (erm.), www.shmh.de