Hamburg. Der mit 12.000 Euro dotierte Hamburger Bilderbuchpreis geht an den Hamburger Illustrator Benjamin Gottwald.

Was macht wohl am meisten Krach: Vulkanausbruch oder Wasserfall? Inwiefern unterscheiden sich um einen Hundehaufen kreisende Fliegen von Rennwagen, die in eine Kurve einbiegen? Und wenn ein Sänger auf der Bühne den Mund aufsperrt, sieht es nicht eigentlich genauso aus, als würde man gähnen? 160 Seiten voller Dinge, Situationen und Figuren, die allerhand Geräusche produzieren.

Einige sind unüberhörbar und geläufig, etwa das Klopfen gegen eine Wand oder ein Niesen. Andere sind leiser oder seltener, sodass man versucht sich vorzustellen, wie ein kaputter Fahrradschlauch klingt oder wie eine Schlange züngelt. Unwillkürlich werden die sich gegenüberstehenden Geräusche miteinander verglichen, und es entstehen Bilder im Kopf, die klingen.

Festakt in der Fabrik der Künste

„Das Lesenlernen beginnt mit dem Lesen von Bildern“, lautet der schöne wie treffende Leitsatz des Kinderbuchhauses im Altonaer Museum. Und so ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass der Hamburger Benjamin Gottwald (34) mit seinem Buchprojekt „Spinne spielt Klavier“, einem Kinderbuch ohne Worte, zum Gewinner des zweiten Hamburger Bilderbuchpreises gekürt wurde. Am Freitag gab es dazu den Pandemie-konformen Festakt in der Fabrik der Künste.

Eine vom Verein Neues Bilderbuch gewählte unabhängige Jury unter dem Vorsitz von Dieter Böge sichtete 214 internationale Wettbewerbsbeiträge und einigte sich auf eine Shortlist von zehn Titeln, darunter „Im Osten der Senf, im Westen die Kohle“, „The Rainmaker“ und „Boa, was für ein Fahrrad!“. Zur Jury gehören unter anderem Dagmar Gausmann, Leiterin des Kinderbuchhauses, Anjuscha Gabain, Lektorin des Carlsen Verlags, sowie Martin tom Dieck, Illus­trator und Professor an der Folkwang Universität der Künste in Essen.

Souveräne und lustige Zeichnungen

Über das Gewinnerbuch heißt es in der offiziellen Begründung: „Die Jury hat sich für ein Bilderbuch entschieden, das ganz ohne Text auskommt und trotzdem beim besten Willen nicht als still bezeichnet werden kann.“ Es könne für einigen Krach beim Kindergeburtstag sorgen und ebenso gut das Bewusstsein der Leserinnen und Leser für feine Unterschiede von Geräuschen und sehr leisen Tönen schärfen. „Das kluge, vielschichtige Konzept dieses Bilderbuchs, die lebendigen, souveränen und lustigen Zeichnungen sowie die sorgfältig abgestimmte, ausdrucksvolle Farbwelt hat die Jury einhellig begeistert.“

Der Hamburger Bilderbuchpreis wird alle zwei Jahre für ein zuvor nicht veröffentlichtes zeitgenössisches Buchkonzept ausgelobt. Zur Bewerbung können Konzepte eingereicht werden, bei denen im Schwerpunkt mit Bildern oder im Zusammenspiel von Bild und Text erzählt wird. Der Verein Neues Bilderbuch ehrt mit dem Preis Buchkünstlerinnen und -künstler, die durch ihre künstlerische Haltung überzeugen und vorbildliche Impulse für die Bilderbuchkunst vermitteln.

160 Seiten voller Dinge, Situationen und Figuren

Neben einem ordentlichen Preisgeld von 12.000 Euro gehört auch die Veröffentlichung im Carlsen Verlag zum Preis. „Ich war total baff, als Dieter Böge mich anrief und mir gratulierte, und bin es auch immer noch“, sagt Benjamin Gottwald. Es ist nicht Gottwalds erstes Buchprojekt – der Comic „Der Ausflug“ und die Graphic Novel „Die Physiker“ nach Friedrich Dürrenmatt wurden bereits verlegt –, doch es ist sein erstes Kinderbuch.

Mit Blick auf den vorigen Gewinner des Hamburger Bilderbuchpreises, Ulrike Jänichens „Zug der Fische“, in dem es um Menschenrechte geht, fand Gottwald sein eigenes Projekt eigentlich „etwas zu lustig“. „Aber anscheinend hat es den Nerv der Zeit getroffen. Vielleicht ist ein Buch, das zum Mitmachen anregt, genau das Richtige nach Corona und der langen Zeit des Alleinseins und -lesens.“

Buch ist zugleich seine Abschlussarbeit

Das Buch, das im November fertiggestellt werden soll, ist zugleich seine Abschlussarbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Dort studiert der 34-Jährige Illustration im Department Design. Wenn er nicht an der Uni ist, teilt er sich mit ein paar Kollegen ein Atelier in der Nähe der Fähre in Wilhelmsburg und gestaltet für verschiedene Tageszeitungen und Magazine.

In Wilhelmsburg lebt der Illustrator auch. Kinder hat er übrigens keine; „Spinne spielt Klavier“ ist also nicht (wie bei vielen anderen Autorinnen und Autoren) aus der Motivation heraus entstanden, den eigenen Nachwuchs zu bespaßen oder aus einem privaten Erfahrungsschatz zu schöpfen. Das Buch sei für Kinder und für Erwachsene, die Kind geblieben sind, gleichermaßen gezeichnet.

Zeichner Saul Steinberg ist eines seiner Vorbilder

„Da ich leidenschaftlich gern Musik höre und verschiedene Instrumente ausprobiert habe, faszinieren mich einfach Geräusche und wie man sie darstellen kann.“ Der simpelste Trick übrigens, um Geräusche auf Papier zu bringen, sei der bewegte Strich, so Gottwald. Wer sich von seiner Musikbegeisterung ein Bild machen will, dem sei die Internetseite „The Illustrated Mixtape“ empfohlen: Dort bebildert Gottwald jede Woche einen Lieblingssong auf Wunsch.

Befragt nach seinen Vorbildern nennt er den bereits verstorbenen rumänisch-amerikanischen Zeichner Saul Steinberg, der viele bemerkenswerte Cover für den „New Yorker“ entwarf. Die lautmalerische Darstellung einer Sirene in der Arbeit „Police Car“ etwa hat ihn beeindruckt. Spannend findet der Autor es übrigens auch, dass dieselben Geräusche in anderen Sprachen durchaus unterschiedlich klingen und artikuliert werden.

„Spinne spielt Klavier“ soll im Frühjahr 2022 erscheinen

Das könne man anhand von Comics sehr gut ablesen. Überhaupt Comics: neben Musik seine zweite ganz große Leidenschaft. Die sammelt Gottwald neben Kinderbüchern und Kunstkatalogen. Und auch sein jetziges Projekt ist letztlich eine Sammlung von Geräuschen.

Sein liebstes Buch aus der Kindheit ist Janoschs „Ich sag, du bist ein Bär“. Darin verwandelt ein Junge seinen viel arbeitenden Vater kurzerhand in einen Bären, damit er mehr Zeit zum gemeinsamen Spielen hat. So erleben die beiden etwa eine turbulente Seeschlacht im Schrank durch die unter Wasser stehende Wohnung.

 Benjamin Gottwalds „Spinne spielt Klavier“ soll im Carlsen Verlag herauskommen.
Benjamin Gottwalds „Spinne spielt Klavier“ soll im Carlsen Verlag herauskommen. © Unbekannt | Unbekannt

„Spinne spielt Klavier“ soll im kommenden Frühjahr erscheinen, pünktlich zur Leipziger Buchmesse, auf der das Buch vorgestellt werden soll. Endlich live mit echtem Publikum! „Über Zoom-Präsentationen hat mein Geräusche-Buch bisher nicht so gut funktioniert. Ich freue mich schon darauf mitzuerleben, wie Leserinnen und Leser tatsächlich mitmachen, welche unterschiedlichen Geräusche durch meine Bilder evoziert werden.“

Eine Online-Präsentation der Shortlist sowie ausgewählter Wettbewerbsbeiträge wird demnächst auf der Internetseite der Fabrik der Künste veröffentlicht. Eine Ausstellung vor Ort ist für 2022 geplant.