Hamburg. Mit „Seeland Schneeland“ ist dem Hamburger ein überragender Roman gelungen, der an Tolstoi, Dickens und „Titanic“ denken lässt.
Ins ewige Eis hatte sich der Hamburger Meistererzähler Mirko Bonné vor etlichen Jahren gewagt. Sein Roman „Der eiskalte Himmel“ erzählte von der gescheiterten Antarktis-Expedition des Lord Shackleton. Und von einem jungen Helden, eher Junge als Mann, der mit in die Kälte fuhr: dem Waliser Merce Blackboro.
Er war zumindest ansatzweise einem realen Vorbild, dem Seemann Perce Blackborow, nachempfunden. „Der eiskalte Himmel“ war ein Abenteuerroman, mit dem sich der feinziselierende und bis dahin vor allem als Lyriker in Erscheinung getretene Wortkünstler Bonné selbst von der Leine ließ.
Nun, anderthalb Jahrzehnte später, zeigt sich der 1965 in Tegernsee geborene und in der Zwischenzeit vielfach ausgezeichnete Schriftsteller erneut als vollkommen entfesselter Erzähler. Sein neuer Roman „Seeland Schneeland“ ist einer der literarischen Tophits dieses Frühjahrs.
Merce Backboro ist wieder eine der Hauptfiguren
Und zeigt jedenfalls Bonné, der in seinen neueren Büchern oft die Gegenwart, die Mittelschicht und das Zwischenmenschliche zu vermessen suchte, in der Form seines Lebens – und als lustvoll im historischen Gewand von allgemeinen menschlichen Sehnsüchten Kündenden. Wieder ist Merce Backboro eine der Hauptfiguren, wieder wird in satten, aber nie übersättigten Farben Zeitkolorit aufgetragen, und wieder spielt der Schnee eine Hauptrolle.
Er droht im Verlaufe der Handlung, die 1921 einsetzt, nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem ebenso todbringenden Werk der Spanischen Grippe und der Rückkehr Merces vom Südpol, einen unfreiwillig vor der Küste Nordschottlands vor Anker gegangenen Dampfer zum Kentern zu bringen.
Der Schnee geht so beharrlich nieder, als wäre er die Verstofflichung der Träume, Sehnsüchte, der Alpträume und Verlustgefühle seiner knapp 2000 Passagiere. Die „Orion“ war unterwegs nach Amerika, und an Bord sind all diejenigen, die einen verarmten und versehrten Kontinent hinter sich lassen wollen; Waliser und Iren, Holländer und Deutsche. Und Ennid Muldoon, die Frau, die Merce liebt und deren Herz er, dies ist der Spannungsteil der Handlung, gewinnen will. Dafür muss er sie aber erst einmal vor dem Ertrinken retten.
Großartig entworfene Szenen
„Seeland Schneeland“ erzählt also, und das mit seinen stellenweise großartig entworfenen Szenen sehr plastisch, von einer Reise des Herzens. Umso mehr, als es Ennid, mit der Merce einst ein kurzes amouröses Intermezzo hatte, gar nicht einfällt, Merce zurückzulieben. Merce ist ein so überzeugender Leidensmann, dass man sich nicht windet, wenn der Text sich ausführlich der Vergeblichkeit seiner Gefühlsangelegenheiten widmet.
Der Roman ist, was seine Themen angeht, ohnehin nie zimperlich. Die Katze seiner Vermieterin nennt Merce „Misery“. Wie gut, dass Bonné mitunter in seinen keineswegs eindimensionalen Figuren mehr als nur einen Hauch von Selbstironie versteckt.
Ennid wiederum verlor ihren Mann im Krieg, ihm gilt ihre vollendete Melancholie. Und doch kennt sie auch den Blick nach vorne; andernfalls wäre sie nicht auf dem Schiff in die Neue Welt. Mirko Bonné porträtiert in „Seeland Schneeland“ eine chaotische Welt, in der Menschen ohne jede Sicherheit leben. Ein jeder ist getrieben und auf der Suche nach einer besseren Zukunft.
Dekadente Sinnsuche
Den mit knappen Auftritten eingeführten Auswanderungswilligen stellt Bonné die mehr Raum einnehmenden Schicksale seiner Protagonisten entgegen. Da wären neben Ennid und Merce vor allem der alternde Waliser Meeks zu nennen, der an Bord des Unglücksdampfers spät sein Begehren auslebt, und sein Dienstherr Diver Robey, der in der Ziel- und Zügellosigkeit seines Trachtens der Verzweifeltste ist.
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Und der Modernste: Bis er am Ende seiner persönlichen Reise einen zutiefst romantischen Versuch unternimmt, Menschenleben zu retten und dafür Gemeinsinn zu stiften, ist seine Sinnsuche dekadent: Der stinkreiche Hotelunternehmer und alkoholkranke Süchtler jagt der Vision hinterher, eine Fluglinie zwischen Europa und der Neuen Welt zu schaffen. Die Beschreibung eines wackeligen Probeflugs mit einem walisischen Flieger ist ein leuchtendes Beispiel perfekten Erzählens.
Auch die Stadt Hamburg hat einen Auftritt im Buch
Was das angeht, ist Bonné entschieden in klassischen Gefilden unterwegs. „Seeland Schneeland“ ist Tolstoi gemixt mit Dickens und einem Schuss „Titanic“, aber zu kalorienreich ist hier gar nichts, da der Autor es versteht, in die pralle Handlung immer auch wieder Passagen von großer poetischer Schönheit einzuflechten.
Der Roman ist sowohl eine Hommage an Wales als auch an das Fliegen, eine Ode an den nonkonformistischen Entrepreneur à la Dover Robbey als auch den Typus des Entdeckers – Lord Shackleton hat in „Seeland Schneeland“ einen späten Auftritt. „Vulkane mit Beinen“ nennt Bonné jene außerordentlichen Gestalten einmal. Es ist ein Kunststück, dass dieser Roman es vermag, das Thema „Sehnsucht“ auf so unterschiedlichen Ebenen zu behandeln wie der verzweifelten Courage der Auswanderer und den existenziellen Überschusshandlungen der Abenteurer und Pioniere.
„Seeland Schneeland“ ist ein historisch akkurater, ein toller Roman. Auch Hamburg hat einen Auftritt, einen sympathischen, übrigens; man könnte Mirko Bonné glatt lokalpatriotische Motive unterstellen.
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