Hamburg. Die schwedische Autorin ist als literarische Figur eine Erfindung ihres Ex-Mannes. Nun schreibt sie selbst über ihre Depression.

Der Mann führt am Esstisch die Gespräche mit den Kindern. Jeden Abend. Die Frau sitzt teilnahmslos dabei. Ein unscheinbares Detail im Leben einer Familie erst einmal. Aber es ist der Sprengsatz in einer Beziehung, der irgendwann hochgehen muss. Dann ist es der Mann halt leid, dies tun zu müssen: den Kindern allein Elternteil und Familie zu sein. Er verlässt seine Frau.

Sie schildert das ohne große Emotionen. Die Trauer über den Verlust versteckt sich im Nebel der Tabletten und Behandlungen. Die Frau, in ihren Vierzigern, ist in der Psychiatrie gelandet. Nicht zum ersten Mal. Aber jetzt hat sie praktisch alles verloren. Und es droht noch mehr Schwund, dem der Erinnerungen, des Vermögens, eine Schriftstellerin zu sein. Was das angeht, den Folgen der Elektrokrampftherapie, schwingt sich die Frau, die gleichzeitig die Erzählerin dieses Romans ist, zu einer fortwährenden Anklägerin auf: Wie kann man so etwas den Menschen, wie kann man so etwas ihr nur antun?

Linda Boström Knausgård ist Hauptfigur ihres Romans

„Oktoberkind“ ist aber ganz eindeutig der Roman einer Rettung. Die Heldin rettet sich ins und im Schreiben. Sie gibt, in einer poetischen Verdichtung und freischwebenden Verknüpfung von Früher, Jetzt und Heute, ihrem Leben mit der psychischen Erkrankung eine Kohärenz, die in der verhassten Therapie pulverisiert zu werden droht. „Es war eine verfluchte Abteilung“, schreibt sie einmal über ihren Platz in der Psychiatrie, die in Schweden eine bekannte medizinische Einrichtung ist, in den Augen der Erzählerin mit notorischem Ruf.

Was ist dieser sprachlich integre, intensive, schmerzliche Roman also? Ein literarisches Zeugnis tatsächlicher Umstände – aber halt nicht irgendwelcher! Denn die Frau, die diesen Roman geschrieben hat, die außerdem die gleichnamige Hauptfigur dieses Romans ist, heißt Linda Boström Knausgård. Und ist schon einmal eine literarische Figur gewesen, in dem autobiografischen Projekt des norwegischen Literaturweltstars Karl Ove Knausgård. Mit dem war Boström von 2007 bis 2016 verheiratet. Knausgård öffnete mit 1000 und mehr Stichen das Familienleben für ein begieriges Lesepublikum. Öffentlich ausgestellt wurde so auch die Depressionen seiner Frau.

„Oktoberkind“ ist ein Befreiungsschlag

Sie sei ärgerlich darüber gewesen, wie er über sie geschrieben habe, sagte Boström ein paar Jahre später; ihr damaliger Mann habe nur gesehen, was er sehen wollte. „Oktoberkind“ ist im Hinblick darauf Boströms literarische Rückeroberung auf biografischem Gebiet, ein künstlerischer Befreiungsschlag. Was soll man sagen: Als Quasi-Gegenschuss zur peinlich genauen Nahaufnahme in Karl Ove Knausgårds Büchern, als weibliche Antwort auf die männliche Version bekommt das Buch neben allen Qualitäten erst so richtig den Touch des Besonderen.

Die allererste Literaturwissenschaftlerregel, wonach das Erzählerinnen-Ich vom Schriftstellerinnen-Ich dringend zu unterscheiden sei, ist seit dem Siegeszug des sogenannten „Autofiktionalen“ ja ohnehin außer Kraft gesetzt, auch der Klappentext dieses Romans kommt ohne den Begriff nicht aus. Man soll und kann „Oktoberkind“ also unter anderem auch hemmungslos vor der Knausgård-Folie lesen.

Eine frühe Leerstelle im Leben

Es entblättert sich ein von den psychischen Schieflagen der Heldin bestimmtes Erzähltableau, auf dem das Scheitern und die Hoffnung, in der persönlichen Durcharbeitung jenes überwinden zu können, verzeichnet sind. Boströms Rückwärtsbewegung in ein Leben mit der mentalen Erkrankung reicht bis Kindheit und Jugend. Die Trennung der Eltern, die wechselnden Lebenspartner der Mutter, einer Schauspielerin: Es gibt eine frühe Leerstelle. Die erste Liebe des Mädchens Linda, das eine Außenseiterin ist. Eine erste Panikattacke auf einer Interrailreise durch Europa. Später dann die Ehe mit dem berühmten Schriftsteller und deren Scheitern.

Er will auf dem Land leben, hat sein Schreibhaus. Wo überall die stinkenden Aschenbecher herumstehen; spätestens da ereilt einen das Knausgård-Feeling. Man gesteht es der vom Leben und der Literatur Beanspruchten so gern zu: Dass sie sich über die Kettenraucherei ihres Mannes auslässt. Vielleicht eine Projektion ganz anderer Vorwürfe. Über ihre Rolle in den Knausgård-Romanen beschwert sie sich jedenfalls nicht, dieses Buch ist keine Abrechnung.

Linda Boström Knausgård: Suizidversuch der Schwangeren

Sondern eine sensible, literarische Beschäftigung mit der Schicksalhaftigkeit der eigenen Vita. Eine Krankheit erweist sich als Gift für Ehe und Familienleben, es gib nichts, was man dagegen tun kann. Die Erzählerin wird als dreifache Mutter erneut schwanger. Und unternimmt während dieser vierten Schwangerschaft einen Selbstmordversuch, es ist nicht ihr erster. Eine Ehe kann so etwas nicht aushalten, ist man geneigt zu sagen.

Eine Schriftstellerin – nach „Willkommen in Amerika“ ist „Oktoberkind“ Boströms zweiter Roman (auf Schwedisch ist es der dritte), der auf Deutsch vorliegt – begegnet sich in der Literatur selbst. Der Gewinn auch für die Leser liegt in der Hoffnung, die in all der Düsternis aufscheint. In den Träumen auf der Psychiatrie-Station tauchen Linda Boström Knausgårds Kinder auf, ihnen gilt ihre Traurigkeit und der Wille, weiter zu machen.