Hamburg. Broadway-Hit in der Inszenierung von Michael Sturminger startet unstimmig. Dann nimmt das Musical Fahrt auf.
Wenn das kein Auftakt ist. Alan Gilbert betritt kaum die Bühne, da ist der Saal schon mittendrin in dem Musical „My Fair Lady“. Es bitzelt das Schlagwerk, es schmachten die Verzögerungen, es federn die Nachschläge, seidenweich schimmert der Streicherklang, passend zur Schummerbeleuchtung. Gilbert ist in seinem Element, aber nicht nur er. Selten sieht man die Geiger des NDR Elbphilharmonie Orchesters sich so genüsslich in die Kurve legen wie bei dieser Ouvertüre.
Dreimal läuft „My Fair Lady“ über den Jahreswechsel in der Elbphilharmonie. Frederick Loewe hat George Bernard Shaws abgründige Komödie „Pygmalion“ vertont. Das Stück, uraufgeführt 1956, wurde zu einem Broadway-Allzeithit. Jeder kennt die Songs, die in der Ouvertüre schon anklingen, gipfelnd im berühmten „The Rain in Spain“ – zu deutsch „Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blüh’n“.
Ein Schicksalssatz. Unter der Knute des Phonetik-Professors Higgins muss ihn die Blumenverkäuferin Eliza bis zur Selbstverleugnung wiederkäuen. Auf diese Weise, glaubt Higgins, könne er ihr ihren Unterschichtsdialekt abgewöhnen und sie in die besseren Kreise einschleusen, nach dem Motto „Sprache macht Leute“. Der Herr Professor hat nämlich eine Wette laufen. Aber von der Erbarmungslosigkeit seines Menschenversuchs weiß die Ouvertüre nichts.
Aus Sprechszenen werden Schreiszenen
Was Gilbert und das Orchester an Spritzigkeit, Brillanz, Eleganz vorgelegt haben, lösen die nachfolgenden Sprechszenen nicht ein. Die Darsteller sind schwer zu verstehen. Durch die Verstärkung scheint der Klang im Raum zu kreisen. Einige sprechen auch einfach zu schnell.
Es wird berlinert im Hau-drauf-Modus – nur klingt das in erster Linie gestelzt. Wenn Eliza in der deutschen Übersetzung von Robert Gilbert aus Berlin kommt, wieso stolpert Higgins dann in Hamburg über sie? Der Regisseur Michael Sturminger – er brachte im vergangenen Jahr eine sehr beschwingte „Fledermaus“ in die Elbphilharmonie – hat ein paar lokale Bezüge bemüht: Higgins’ Freund und Wettpartner Oberst Pickering logiert im Hotel Westin gleich im Konzerthaus, das Pferderennen findet in Klein Flottbek statt, Elizas Freunde tragen Pauli-Fanschals. Traut Sturminger den Hamburgern nicht zu, sich über eine in Berlin angesiedelte Story zu amüsieren?
Junggeselle Higgins und der gleichbleibende Trompetenton
Michael Maertens stimmt für die Rolle des sperrigen Junggesellen Higgins einen gleichbleibenden Trompetenton an. Er spricht seinen Part in einem schwer erträglichen Modus der Dauererregung. Das mag zum Teil auch auf das Konto des Textes gehen. Higgins nennt seine Schülerin unausgesetzt „Dreckstück“ oder „Rinnsteinpflanze“, auch wenn die Zuschauer längst kapiert haben müssten, was er von ihr hält.
Sarah Maria Sun als Eliza röhrt ihre berlinerischen Repliken mit hohem emotionalem Aufwand. Aber warum lässt eine so schlagfertige Göre Higgins’ Unverschämtheiten nicht einfach abperlen? Warum will sie ausgerechnet bei diesem Scheusal Unterricht nehmen? Um derlei subkutane Prozesse kümmert sich die Regie nicht.
Abwechslung und akustische Erleichterung bringen die Dialoge mit Pickering und der Haushälterin Mrs. Pearce. Kai Maertens und Josefin Platt nehmen sich die Freiheiten großer Schauspielkunst. Sie unterspielen, verzögern und modulieren, dass es eine Freude ist. Und Edith Clever als des Herrn Professors vornehme Frau Mama ist ohnehin eine Klasse für sich.
Aber bis sie auftritt, ist der erste Teil schon fast um, und die Rezensentin geht einigermaßen ratlos in die Pause.
Nach der Pause nimmt die Sache Fahrt auf
Doch dann nimmt die Sache Fahrt auf. Die Tonregie hat offenbar nachjustiert. Die Darstellung der Figuren fällt weniger holzschnittartig aus. Je weiter Eliza sich sprachlich, in Benehmen und Kleidung einer Dame annähert, desto glaubhafter wird Sarah Maria Suns Spiel – und das, obwohl die Sopranistin normalerweise auf Extremrollen aus dem fernen Reich der Neuen Musik abonniert ist. Ihre Stimme klingt an diesem Abend recht eng, das Vibrato nervös und schnell.
Die Entdeckung des Abends ist der junge Tenor Simon Bode. Aus seiner Nebenrolle als Elizas Verehrer Freddy holt er heraus, was geht, beschreibt duftige Kantilenen, beweist Gespür für den Broadway-Sound, obwohl er sich seine Opernsporen mit Mozart verdient hat. Auch der NDR Chor ist mit Lust und hoher Präsenz bei der Sache, und als Allzwecktrupp schickt Sturminger ein Ensemble von Sängern und Musicaldarstellern kreuz und quer durch den Raum, mal als Hauspersonal mit Schürze und Wischmop und mal als feine Gesellschaft in Abendroben.
Die Schauspieler schlagen sich bewunderungswürdig in den Gesangsnummern, auch wenn sie dem Orchester ein paar Mal davongaloppieren. Warum Eliza auf den letzten Metern noch ihr Herz für den garstigen, empathiefreien Professor entdeckt, bleibt ein Rätsel. Aber sowie Musik dabei ist, spielen solche Fragen keine Rolle mehr, wird das Ganze schlüssig, fühlbar, mitreißend.
Eins zu null für Loewe. Und für seine hochmotivierten Interpreten.
Publikumsstimmen zu My Fair Lady
Ulrich Bliever (nicht aus Hamburg): „Orchester und Chor waren sehr gut, die Sänger waren zum Teil schwer zu verstehen. Aber es ist ja ein Musical, das darf man nicht mit der Oper vergleichen.“
Brigitte Böker aus Koblenz: „Das war eine sehr lebendige, komische Inszenierung. Ich war zum ersten Mal in der Elbphilharmonie, der Eindruck ist sowieso gigantisch. Die Stimmen waren toll.“
Rainer Lipp aus Bargteheide: „Es hat mir gefallen, wie das Stück in die Konzert-Location eingepasst wurde. Die Musik war sehr mitreißend, das passte zur Silvesterstimmung.“