Hamburg. Die Schweizer Erfolgsautorin Sibylle Berg rockte auf Kampnagel eine treue Fangemeinde mit ihrem neuen Werk „GRM. Brainfuck“.
Man solle doch bitte für ihn aufstehen, sagt dieser irrsinnig energiegeladene Künstler ins Publikum, als die Veranstaltung nach knapp einer Stunde schon beinahe an ihr Ende gekommen ist. Sein Wille geschieht, und Kampnagel steht auf: Fast 700 Besucher, die sich mehr oder minder hüftsteif im hochgepitchten Rhythmus der Songs von T.Roadz wiegen, wie der gar nicht heimliche Star des Abends heißt.
Eigentlich ist das hier ja eine Literaturveranstaltung. Aber eben nur im weitesten Sinne. Sibylle Berg, die schreibende Spätkapitalismus-Seziererin aus Zürich mit der treuen Lesergemeinde (sie begrüßt sie mit „Liebe Kameradinnen und Kameraden“), hat mal wieder eine kleine Show auf die Beine gestellt. Eine szenische Lesung mit Videoleinwand, DJ und Livemusik als konsequenten Bühnentransfer ihres neues Buches, das so heißt wie der Musikstil, in dem T.Roadz zu Hause ist: Grime. Um genau zu sein, heißt der 14. Roman der 1962 in Weimar geborenen und in der Schweiz lebenden Schriftstellerin vokalsparend „GRM. Brainfuck“. Er ist ein 640 Seiten dicker Brocken aus Dreck, Hässlichkeit und Untergang, in dem vier Jugendliche versuchen, unserer von Berg ins Bitterböse gewendeten Gegenwart etwas entgegenzusetzen: Menschlichkeit.
Der totalitäre Überwachungsstaat ist bloß Fiktion – oder?
„Das ist keine Dystopie. Es ist die Welt, in der wir leben. Heute. Und vielleicht morgen“ – so steht es auf dem Einband von „GRM“. Ist natürlich totaler Quatsch, denn das totalitaristische Regime des Überwachungsstaats, wie ihn Berg in einem Post-Brexit-England imaginiert, ist ausgedacht.
Aber eben nur halb: In dem, was technisch möglich ist, erkennt man das, was uns blüht, wenn die Menschheit die Kontrolle über sich und ihre hehren Begriffe von Freiheit und Selbstbestimmung verliert. „GRM“ spielt in einer Gesellschaft, die den demokratischen Staat hinter sich gelassen hat. Die Wirtschaft gehört den Chinesen, die Polizei ist ein Privatunternehmen. Immerhin gibt es ein Mindesteinkommen, jedoch nur für die, die sich einen Chip implantierten lassen, der sämtliche persönliche Daten speichert.
Der einzig positive Aspekt also: das Bemühen, jedem genug zum Leben zu geben. Davon kann in dem Roman, der ohne jedes Manöver einer auf Sprachschönheit zielenden Verbrämung geschrieben ist – die Szenen rattern wie eine Diashow in der iCloud an einem vorbei – sonst keine Rede sein. Bergs Wirklichkeitszugriff fußt nicht nur auf der Logik des Kapitalismus 5.0 mit seiner Auslagerung menschlicher Praxis an künstliche Intelligenzen, sondern früher schon auf der Feststellung massiver sozialer Unterschiede. Die jugendlichen Helden Don, Hannah, Peter und Karen gehören der Unterschicht an, dem Bodensatz. Dort hat man nicht viel zu lachen.
Gesellschaftskritik ist das Trendthema schlechthin
Ihre Musik ist Grime (englisch für Schmutz), jener messerscharfe Mix aus HipHop und Elektro, in dem sich vorwiegend schwarze Interpreten tummeln. Was bei Sibylle Berg wohl zuerst da war, die Faszination für jene straßencredible Spielart des Pop oder die, das muss an dieser Stelle gesagt werden, nicht sonderlich originelle Idee, das negative Zeitempfinden schwarzgallig fortzuschreiben?
Der dystopische Furor der Gegenwartsliteratur sagt allerdings fast alles über den Zustand der Welt: Vielleicht sollte man sich schon bald mal darauf besinnen, dass niemandem damit geholfen ist, sich ständig pessimistisch ins Koma zu heulen. Den düsteren Ton, den Berg in „GRM“ anschlägt, vermeint man in der Tat zuletzt zu häufig gehört zu haben. Gesellschaftskritik, vermengt mit dem dunklen Genuss an der Transformation der humanistisch geprägten Welt, ist das Trendthema schlechthin.
Warum nicht den Gegenwarts-Abfuck mal zu Ende denken?
Andererseits: Wer, wenn nicht Berg, jene sardonische Stilistin, jene Parteigängerin des moralischen Zynismus mit dem Herzen aus Gold, die die Welt besser haben will als sie eben ist, hat dann eben doch die Pflicht, den Gegenwarts-Abfuck mal zu Ende zu denken? Gar nicht davon zu schweigen, dass an diesem Abend ihr funkelndes 75-Minuten-Programm im Einerlei des Lesungsbetriebs eine willkommene Abwechslung ist. Die Schriftstellerin sitzt im Schneidersitz auf der Bühne, dahinter das DJ-Pult, daneben ein gemütlich wirkendes Sofa, auf dem ungemütliche Sätze gesprochen werden. Die meisten auf Deutsch, ein paar aber auch auf Englisch. Drei Schauspieler hat sich Sibylle Berg zur Seite geholt, mit denen sie dialogisch aus dem Roman liest.
Die epische – sagen wir es offen: zu epische, 640 Seiten! – Ausformulierung wird auf der Bühne zum dramatischen Abriss, der stichwortartig die Handlung vor über die Leinwand flimmernder Plattenbausiedlung-Tristesse paraphrasiert. Dass Berg auch Theaterautorin ist, merkt man der Darbietung an. Der Plot ist genau deswegen lediglich ein atmosphärisches Ungefähr.
Dazu passt, dass man von den Musikeinlagen, die dem Abend seinen eigentlichen Beat geben, selbstverständlich gar nichts versteht. Also buchstäblich fast keine Zeile. Bei Grime geht es um Tempo. Sie habe den damals 13-Jährigen T.Roadz in London entdeckt und sich gedacht, sie müsse ihn unbedingt hierher holen, erklärt Berg zum Schluss, als die Performance in ein Kurz-Konzert mündet.
Kunstfiguren haben mit eigener Realität nichts zu tun
Sie steht da, während der nun also 14-Jährige, der mit der rohen Energie des Underdogs seine Lines rappt, wie eine freundliche Gouvernante im Hintergrund, die sich über die Fertigkeiten der wilden Brut freut. Es muss das Wohlbehagen der Schöpferin sein, die nicht nur auf betexteten Seiten, sondern auch in der Performance über ihre Figuren gebietet, das sich in diesem Moment meldet. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Wäre da nur nicht wieder einmal das Gefühl, das man nie so recht einordnen kann: dass die Lebenswelten der der Realität abgepausten Kunstfiguren – zu welchen Anteilen ist T.Roadz eine? – mit der eigenen nichts zu tun hat. Wenn es um die Unterprivilegierten geht, kann der privilegierte Kulturkonsument aber immerhin andächtig nicken. Und den derben Grime-Rapper, der bei Sibylle Berg den Soundtrack zum Endzeit-Roman liefert, vielleicht sogar deutlich gegen dessen Absichten, nun ja: niedlich finden. Dass die Veranstaltung so schnell vorbei ist, liegt außer an ihrer pointierten Dramaturgie wohl auch am Jugendschutz.