Mit „Billy Summers“ legt der Erfolgsautor einen großartigen Roman vor, der ohne Horror auskommt. Ein Thriller mit vielen Ebenen.

Die sind wie Wasserhahnaufdrehen, diese ersten Seiten eines neuen Romans von Stephen King. Es läuft, einfach so, von Anfang an, als wäre es das Einfachste von der Welt, derart souverän zu schreiben, und schon ist man drin in diesem unonkeligen Erzählrhythmus, der einem absolut jeden Albtraum-Einfall total glaubhaft machen kann: Urängste und Übersinnliches sind eine einfache Übung und Clowns mit Raubtiergebissen, die unter Gullydeckeln wohnen und Kinder fressen, sowieso.

Kaum war „Later“, die letzte, leider arg kurze Novelle über einen mit Toten sprechenden Jungen, vor einigen Monaten flott eingeatmet, schon erscheint weltweit synchronisiert „Billy Summers“, die nächste, die x-te Schwarte vom Großmeister des Grauens, der in seiner Ostküsten-Heimat Maine längst das inoffizielle Wappentier des Bundesstaats sein dürfte.

Roman von Stephen King: Ein anderes Monster

Obwohl: Das gute alte, immer wieder gern genommene Stephen-King-Horror-Gruseln, das fehlt in diesen 720 Seiten komplett und konsequent. Darüber ist er längst hinaus, seine Klasse dort ein x-tes Mal beweisen zu wollen. Sein klassisches Zauberwort „Monster“ kommt nur einmal vor, und das auch erst auf Seite 655, und das große Monster im Finale ist ein Medienmogul, der sicher nicht nur rein zufällig große Ähnlichkeit mit lebenden Personen hat. Außerdem setzt es hin und wieder kleine Seitenhiebe Richtung Donald Trump, den King so liebend gern auf Twitter beschimpfte, als der noch im Amt war.

Die Geschichte an sich hat King auf einige Monate vor Ausbruch der Corona-Pandemie datiert. Und diese Geschichte – zumindest beginnt sie so konventionell – ist ein klassischer Noir-Krimi, mit schnörkellos gebautem Plot-Fundament. Der Auftragskiller Billy Summers – 44, ehemaliger Marines-Scharfschütze mit traumatischer Jugend – will nach anderthalb Dutzend gut bezahlten Treffern noch einen letzten Job übernehmen, danach soll es das gewesen sein. Für zwei Millionen Dollar soll er sich in der harmlosen Rolle eines Schriftstellers mit Deadline-Stress in seiner Autoren-Klause auf die Lauer legen, bis ihm das Opfer auf dem Weg zu dessen Prozess vor die Spezial-Flinte läuft.

Auftragskiller tötete ausschließlich „schlechte Menschen“

Stephen King: „Billy Summers“, übersetzt von Bernhard Kleinschmidt, Heyne Verlag, 720 Seiten, 26 Euro.
Stephen King: „Billy Summers“, übersetzt von Bernhard Kleinschmidt, Heyne Verlag, 720 Seiten, 26 Euro. © (c) Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Muenchen | Unbekannt

Riecht nach Dallas, JFK und Lee Harvey Oswald und Kings Zeitreise-Schmöker „Der Anschlag“ (im Orginal: „11/22/63“) zu diesem Thema, das soll es sicher auch. King ist ohnehin groß darin, für die Stammkundschaft kleine Ostereier in den Zeilen zu verstecken, von Anspielungen auf „Stand By Me“ bis zur überdeutlichen Erwähnung des Overlook Hotel, in dem sich Jack Nicholson in „Shining“ mit einer Axt als Türöffner so lieblich verewigte.

Sich und damit dem Leser sagt Summers früh sehr deutlich, dass er als „Müllmann mit Waffe“ ausschließlich „schlechte Menschen“ getötet habe. Schon das bringt ihm natürlich erste Sympathie-Punkte; dass er sich in einer sehr King-typischen Vorstadt-Nachbarschaft als der nette Autor von nebenan bei Monopoly und Barbecues beliebt macht, erst recht. Weil Summers schlauer ist, als er aussehen will, behält er für sich, wie belesen er ist. Und beginnt damit, das method acting als braver Literat zu perfektionieren.

Abschuss des Böses nach 250 Seiten abgearbeitet

Beim Warten aufs Attentat verromant er zunehmen erfolgreich seine eigene Lebensgeschichte, um zu sehen, wie weit er damit kommt. Wobei King sich anfangs auch noch die kleine literarische Pirouette gönnt, in den leicht unterbelichteten Tonfall zu verfallen, den Summers als Tarnung für sich perfektioniert hat.

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Weil aber einmal keinmal ist und Summers seinen Auftraggebern ganz und gar nicht traut, legt er sich am anderen Ende der Kleinstadt noch eine Dritt-Identität für Notfälle nach dem Anschlag zu, einen graumäusigen IT-Spezialisten in einer möblierten Wohnung. Und weil King nun mal King ist, gelingt ihm kurz nah dem Auftragsmord der bewundernswerte Dreh, mehrere Romane und mehrere Genres elegant unter diesen einen Buchdeckel zu bekommen. Der Abschuss des vermeintlich Bösen ist bereits nach 250 Seiten sehr schnell und eher unaufregend abgearbeitet, erst dann wird es komplex, und das noch deutlich Bösere kommt ins Spiel.

Stephen King erschafft Thriller mit Drama-Ebene

King biegt an dieser Stelle so scharf ab, dass weniger Begabte garantiert aus der Erzählkurve geflogen wären. Der Thriller erhält unversehens eine Drama-Ebene, eine Irak-Krieg-Erinnerung, eine Roadmovie-Ebene, eine Kindheitstragödie, eine wirklich sanftmütige Liebesgeschichte und zwei einfühlsame Charakterstudien. Nachdem die Achterbahnfahrt mit nur einem Verbrechen beginnt, endet sie mit den ganz großen Themen, Moral, Schuld, Sühne, Liebe, Verlust und Sterblichkeit.

In wenigen Tagen läuft übrigens in den USA die Serie „Chapelwaite“ an, die auf dem frühen King-Klassiker „Jerusalem’s Lot“ beruht, die nächste Buch-Ankündigung ist bereits da: 15. Februar, „Gwendy’s Final Task“. Nach dem King ist vor dem King.

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