Hamburg. Kolossal unterhaltsam, klug, smart und mehr als eine Million Mal verkauft: Ein Mix aus Thriller, Ideenroman und Komödie.
Unaufgefordert an dieser Stelle zunächst ein Tipp. Lesen Sie dieses Buch nicht unbedingt im Flugzeug. Ach, heute haben wir empfehlungsmäßig die Spendierhosen an und sagen außerdem: Fliegen Sie doch eh nicht mehr so häufig künftig, auch wenn die Pandemie dann irgendwann, in 100 Jahren oder so, mal vorbei ist. Fliegen ist nicht gut für den Planeten und die Großstadtmenschen, die in den Flugschneisen wohnen.
Aber manchmal muss es wohl sein, das Luftreisen. Es sollte einem dann aber nie das widerfahren, was den Passagieren des Interkontinentalflugs von Paris nach New York im März 2021 widerfährt. Sie kommen in einen heftigen Gewittersturm. Werden in 10.000 Meter Höhe, aus denen schnell weniger werden, heftig durchgeschüttelt. Fast fallen sie mit der Boeing 787 in den Atlantik. Dann sind die Turbulenzen vorbei. Sie kommen heil herunter. (Wie gesagt: Es muss grauenhaft sein, im Flugzeug von einem beinah abstürzenden Flugzeug zu lesen, da kann nur Panik aufkommen).
Diesselbe Maschine landet ein paar Wochen später wieder
Ein paar Wochen später allerdings landet exakt dieselbe Maschine noch einmal. Wieder nach einem Nahtoderlebnis im Wirbelwind. Derselbe Pilot, dieselben Passagiere. Im Tower des JFK International Airport fragen sie erst verdutzt, dann scharf nach: Wie ist die Kennung des Flugzeugs? Um welchen Air-France-Flug geht es genau? Wer ist der Flugkapitän?
Und welches Datum haben wir eigentlich? Den 10. März? Als Pilot David Markle den seiner Meinung nach geltenden Kalendertag durchfunkt, lotst ihn das Bodenpersonal vorsichtshalber auf einen Militärflughafen in New Jersey und informiert die Geheimdienst. Hier stimmt etwas nicht. Es ist der 24. Juni. Wo kommt der genau gleiche Flieger mit all den Doppelgängern her? Was ist hier denn los, bitte?
„Die Anomalie“ machte Le Tellier zum berühmten Autor
Das ist der Kern dieses außergewöhnlichen Romans, der den Titel „Die Anomalie“ trägt und aus der Feder des 64-jährigen Schriftstellers Hervé Le Tellier stammt. Der Franzose, er ist den Romanisten bekannt als Chef der auf Formalien und ästhetische Formstrenge stehenden Oulipo-Gruppe und einst Mathematik studierte, hat ein bislang ein vielseitiges Werk zu verantworten, von dem einiges auch auf Deutsch erschienen ist. Beispielsweise der schelmische Briefroman „Ich und der Präsident“ oder der Familienroman „All die glücklichen Familien“. In seiner Heimat kennt man ihn, das ist keine Besonderheit, ohnehin mehr als in Deutschland. Aber erst mit „Die Anomalie“, im Original: „L’Anomalie“, ist Le Tellier quasi über Nacht zum berühmten Autor geworden.
Weil der irrwitzige Vorgang der Duplizierung in seinem kolossal unterhaltsam, klug und smart geschriebenen Roman der Ausgangspunkt einer Handlung ist, die federleicht zwischen Thriller, Ideenroman und Komödie changiert. Man hätte sich eine wie Science Fiction anmutende, paranormale, cineastisch hingelegte Vollgas-Story nicht besser ausmalen können. Und vielleicht hätte man dies der schönen und erzählenden Literatur auch gar nicht so zugetraut, der deutschen allemal nicht: Spielerisch ein Szenario zu entfalten, das komplett unrealistisch erscheint, aber als Versuchsanordnung einigen Reiz entfaltet.
Eine große Bandbreite an Figuren und Schicksalen
Dabei ist wirklich vieles überraschend an diesem Plot. Der äußert beherzt zu Werke gehende Erzähler Le Tellier steigt in den Roman mit dem Mord eines Auftragskillers ein. Gibt ihm eine Top-Hintergrundsgeschichte. Von dem Typen will man gleich mehr wissen. Le Tellier ist dann aber schnell bei Victor Miesel, einem grundsätzlich, so rein wesensmäßig, eher in den Seilen hängenden Schriftsteller, der einer vagen Liebe hinterhertrauert und einen mittelgroßen Übersetzerpreis gewonnen hat. Was ihn aber auch nur mittelmäßig euphorisch stimmt. Die beiden haben eines gemeinsam: Sie sind an Bord der Air-France-Maschine(n).
Und bei Weitem nicht die einzigen Figuren, die Le Tellier auffährt. Nicht ganz ein Dutzend Lebensläufe und Lebenswirklichkeiten werden in aneinandermontierten Abschnitten zusammengesetzt. Die Tochter eines amerikanischen Kriegsveteranen ist unter ihnen, ein alternder Architekt, ein afrikanischer Popstar, eine Spitzenanwältin, der Pilot.
Der Erzähler hat es erkennbar auf Pointen angelegt
Der Pilot in der Version vom 10. März wird kurze Zeit später unheilbar krank; die Version vom 24. Juni hat theoretisch die Möglichkeit, noch rechtzeitig zum Arzt zu gehen. Der Roman kann nicht anders, als die Zuspitzung zu suchen: Auf der McGuire Air Force Base lässt das von der Regierung (der Präsident ist ein
Aberwitzling – Le Tellier war beim Schreiben noch ganz in der Trump-Wirklichkeit) eilig zusammengestellte Expertenteam die armen Geschöpfe mit ihren jeweiligen Doppelgängern zusammentreffen.
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Das ergibt erzähltechnisch viele Pointen, und auf die hat es der Erzähler hier erkennbar angelegt. Wenn es so unverblümt geschieht wie hier, wenn der gesamte Roman auf diese Knalleffekte hin ausgerichtet ist, dann ist das in jederlei Hinsicht entwaffnend. Nichts ist hier ernst, im Gegenteil. Die Lektüre von „Die Anomalie“ ist mit unbändiger Lust an absurd bis grotesk daherkommenden Vorgängen geschrieben.
„Die Anomalie“ gewann 2020 den Prix Goncourt
Wurde der Flieger geklont? Oder leben wir alle in einer Simulation? Wer hat eigentlich mehr über das ganze Drama zu sagen, die Wissenschaft oder die Religion? Das alles nimmt Hervé Le Tellier ohne zu großen Drang am Tiefgründeln in den Blick. Seine Freude an der Überforderung der Gattung Mensch teilt sich auf in ein Interesse an dezent Philosophischem und in eine Komik, die auch völlig unsubtil sein kann.
In Frankreich haben sie dieses Buch schon geliebt, bevor es im November 2020 den Prix Goncourt gewann, die wichtigste Literaturauszeichnung jenseits des Rheins. Mittlerweile wurde „L’Anomalie“ im Original mehr als eine Million Mal verkauft. Der Roman ist ein gigantischer Erfolg.
Hervé Le Tellier stellt seinen Roman am 15.9., 19.30 Uhr, im Literaturhaus vor, Jürgen Ritte moderiert, Karten (14/erm. 10 Euro) oder Streamingticket (5 Euro): literaturhaus-hamburg.de