Hamburg. Hamburgs Original hat in der Corona-Pandemie ein Live-Album aufgenommen, mit Mindestabstand. Kann das funktionieren?
Wenn Abi Wallenstein auf der Bühne steht, dann legt er oft ein zufriedenes Lächeln in sein Gesicht, ein wenig schelmisch, ein bisschen bubenhaft. Wallenstein blickt gern zu den Menschen im Publikum, wenn neben seiner Gitarre gerade ein Pianist oder ein Mundharmonika-Spieler durch das Solo rauscht. Abi Wallensteins Zuhause, das lässt sich nach mehr als einem halben Jahrhundert Live-Auftritten sagen, ist die Bühne. Der Blues.
Doch seit der Pandemie ist dieses Zuhause eingebrochen. Seit fast anderthalb Jahren sind die Clubs dicht, monatelang geht gar nichts, keine Shows, kein Blues. Live-Musiker wie Wallenstein wurden zu Obdachlosen der Kulturszene. Erst war da die Schockstarre in der Szene, und mit dem Verständnis für die Vorsicht wuchs auch der Frust. Wer Wallenstein nur ein wenig kennt, weiß, dass Starre und Frust keine Aggregatzustände seines Geistes sind.
Es ist Ende Mai vergangenen Jahres, die erste heftige Corona-Welle schwappt noch immer durch Deutschland, als die Musiker Georg Schroeter und Marc Breitfelder die Hamburger Blues-Größe nach Kiel einladen, ins Studio von Yonatan Pandelaki. Mit dabei ist Schlagzeuger Martin Röttger.
Wo sonst mittags die Pasta kocht, brutzelt der Blues
Sie tragen Maske, sie umarmen sich nicht wie sonst herzlich, es gibt nur einen Ellenbogen-Check. Dann geht jeder in seine Kabine. Live-Musik mit Mindestabstand. Eine Show im Pandemie-Ausnahmezustand. „Und trotzdem hat man richtig gemerkt, wie ausgehungert wir waren nach den Monaten ohne Auftritte“, sagt Pianist Georg Schroeter.
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Das Studio in Kiel hat sich gleich zu Beginn der Corona-Krise spezialisiert, auf Live-Shows per Internet-Übertragung. Und so läuft es auch an diesem Abend. Vier Räume, vier Musiker, verbunden nur über einen Monitor. Und per Internet in die Wohnzimmer der Zuschauer. Immerhin fast 1000 Gäste waren virtuell dabei.
Interpretationen von Prince
Abi Wallenstein steht mit Hut und Hemd und seiner holzfarbenen Gitarre vor weißen Wänden, blickt in eine Kamera. Dort, wo Wallenstein einige seiner eigenen Songs und Interpretationen von Prince, John Fogerty und Elmore James singt, ist sonst die Küche des Tonstudios. Wo sonst mittags die Pasta kocht, brutzelt jetzt der Blues.
Aus dem digitalen Live-Auftritt ist ein Album entstanden. Es erscheint jetzt, digital, aber auch als CD und Vinyl und heißt: „Abi Wallenstein’s Spirit of the Blues“. Wallenstein sieht seine Musiker in den anderen Räumen nur auf einem kleinen Bildschirm, der Sound kommt über Kopfhörer.
Ehrlicher, erdiger Blues
„Das Bild kam aber verzögert zum Ton. Ich musste mich immer darauf konzentrieren, nicht aus dem Takt zu kommen“, sagt Wallenstein heute. Am Anfang sei es ihnen nur darum gegangen, mal wieder zum Musikmachen zusammenzukommen, nach den Wochen der Zwangspause. „Mir fehlten nicht nur das Publikum, sondern auch meine Mitmusiker.“ Am Ende seien alle überrascht gewesen, wie gut der Sound der improvisierten Live-Show war – trotz Mindestabstand.
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Das Album ist nicht spektakulär, nicht virtuos. Es ist ehrlicher, erdiger Blues. Vieles dominiert die raue Stimme von Wallenstein, immer wieder glänzen Schroeter am Klavier und Breitfelder an der Mundharmonika mit Solo-Parts. Es ist ein Live-Album ohne Applaus, ohne Zwischenrufe, ohne Jubeln, Jauchzen, Grölen im Publikum. Das macht das Werk fast mehr zu einem Studioalbum als zu einer Show.
Beim Blues ist das Publikum der fünfte Musiker
Die Musiker können sich keine Zeichen geben, kein Zuwinken vor dem nächsten Solo, kein Flüstern auf der Bühne. Vor allem können sie nicht auf die Zuschauer in den fernen Wohnzimmern vor den Computern reagieren – diese Interaktion, die Live-Shows so einzigartig macht, fehlt. „Gerade beim Blues ist das Publikum der fünfte Musiker“, sagt Wallenstein.
Und dennoch übertragen die vier Musiker auf dem Mitschnitt Emotionen. Wallenstein ruft aus seiner Küchen-Kabine Schroeter zum Piano-Solo. Er gibt das Signal an Breitfelder, der mit klar definiertem Sound seine Blues-Harp spielt. „One more time!“
Pikante Instrumental-Parts
Fast alle Songs auf dem Album haben Live-Länge, sind sechs oder acht Minuten lang, gespickt mit pikanten Instrumental-Parts, mit Improvisation wie es der Blues verlangt. Eine groovige Variante vom Pop-Hit „Kiss“ und eine verspielte Version von „As Long As I Can See The Light” runden das Album ab.
Es ist ein Konzert aus dem Tonstudio. Ein Konzert, das vier Musiker in einer Zeit zusammenbringt, in der unsicher ist, wie schnell die Branche wieder auf die Beine kommen wird. Ein gutes Pandemie-Jahr und mehrere Infektionswellen später, wenn nun das Album erscheint, ist diese Unsicherheit noch immer gegenwärtig. An zwei, drei Stellen überschlägt sich Abi Wallensteins Gesang. Er ruft ins Mikrofon. Es klingt fast kämpferisch. Es klingt wie nach einem: Wir lassen uns nicht von einem Virus zum Schweigen bringen!
Dichte Atmosphäre
Und so wird der Zuhörer für einen Moment zurückgetragen in die engen, stickigen Blues-Clubs, in die schweißgeschwängerten Eckkneipen. In die Tempel der erdigen Sounds, die Wallenstein vor der Pandemie noch Woche für Woche füllte. Man sieht Wallenstein nicht auf diesem Live-Album – und doch taucht im Kopf bei Boogie-Liedern wie „Cry Baby Cry“ das alte Abi-Lächeln, der alte Schalk, wieder auf.
„Abi Wallenstein’s Spirit of the Blues“ auf CD (ca 16,-) und Vinyl (ca 20,-)