Hamburg. Hanya Yanagihara legt einen unterhaltenden nächsten Streich vor. Das Buch ist dick – und zugleich fesselnd und ärgerlich.

So bewundernswert, schick, kunstvoll der essenzielle, reduzierte literarische Text ist: Gelegentlich haut die Maßlosigkeit noch mehr rein in die aufnahmebereiten Empfängermodule der Lesenden. So muss es vor sieben beziehungsweise fünf Jahren gewesen sein, als „A Little Life“ im englischen Original und dann in der Übersetzung („Ein wenig Leben“) erschien. Die für den Booker Prize nominierte Schwarte war in vielen Ländern ein Hit. Dabei polarisierte die Geschichte, die sich um Freundschaft, Liebe und Missbrauch drehte, auch. Gefühlsoverkill erschien manchen als enervierend.

Was das angeht, klärt Hanya Yanagiharas Roman „Zum Paradies“ die Sicht. Er ist der in mancherlei Hinsicht bestens unterhaltende nächste Streich einer Wiederholungstäterin. Wieder erscheint es verblüffend, wie rigoros unironisch und ernsthaft die 1974 geborene Autorin erzählt und ihre Figuren miteinander agieren lässt. Emotional geht es diesen Figuren wieder um alles, in jeder Handlung, in jedem Dialog. Ein Umstand, der sich im künstlerischen Überschuss der Autorin spiegelt, in der 900 Seiten langen neuen Erzählung, die sowieso auf kühne Weise präsentiert wird.

Eigentlich drei Romane: Hanya Yanagiharas „Zum Paradies“

Denn eigentlich sind es drei Romane in einem, die sich hinter dem maximal anschlussfähigen Titel verbergen. „Zum Paradies“ als Stoßrichtung menschlichen Strebens, das umfasst die allgemeinen Sehnsüchte und Erfahrungen, die sich am Wegesrand nach Arkadien ansammeln. Niederlagen, Scheitern, Kummer, Trauer und Traumata lauern allüberall. Besonders dann, wenn die Freiheit als Grundvoraussetzung menschlicher Entfaltung eine Verlustsache ist. Oder nie da war. Für ein Erzählwerk ist beides eine gute Voraussetzung. Geschichten vom Glück bringen es nicht.

Was die Drei-in-eins-Charakteristik angeht, ist die Wiederkehr der Namen bedeutsam. In jedem der drei Teile gibt es einen David, einen Edward. Einen Charles, einen Nathaniel. Einen Adam und so weiter – als wäre das Hinweis darauf, dass es zu allen Zeiten Menschen gibt, die sich zum Beispiel im Namen gleichen, aber auch sonst. Purer Zufall, in welcher Zeit man geboren wird. Einer der ersten Rezensenten brachte im Hinblick auf diese Allgegenwart und Allverbundenheit die Chaostheorie ins Spiel. Was natürlich fast schon lustig ist, aber sehr klug klingt.

Das fesselnde Erzählpanorama beginnt 1893

Ob diese Teile wirklich zusammenhängen, welche Verrenkungen man als Rezipient machen muss, ob sie überhaupt zusammenhängen müssen, ist insgesamt eh egal. Entscheidend ist, dass es Yanagihara über weite Strecken gelingt, ein fesselndes Erzählpanorama aufzublättern. Der erste Teil spielt 1893 und ist als alternativgesellschaftliche Versuchsanordnung die beste Idee des Werks. Im Stile eines Henry James berichtet Yanagihara von den amourösen Irrungen und Wirrungen des hochwohlgeborenen David Bingham, der leider den falschen Mann liebt, wenn es nach seinem großbürgerlichen Großvater geht. Einen unsteten Künstlertypen nämlich, heiraten soll er aber den deutlich älteren Spross einer Unternehmerdynastie.

Also alles lediglich eine Frage der Klassenzugehörigkeit, nicht des Geschlechts. Das Amerika, das hier beschrieben wird, ist ein Land der freien Liebe. New York und benachbarte Gebiete gehören zu den „Freistaaten“, die mit dem Rest Nordamerikas assoziiert sind. Schwule Männer können in den Freistaaten legal und furchtlos ihr Begehren leben. Glücklich wird man als schwuler Mann dennoch nicht ohne Weiteres, wie das Schicksal des mental und körperlich schwächelnden David zeigt, der gemäß der Erblinie Bankier werden müsste, aber dies ausschlug. Die Erziehung des Herzens, der klassische Konflikt mit Altvorderen und die Emanzipation sind die Themen dieses literarischen Popcorn-Kinos. Herrlich altmodisch, wenn man dafür in Stimmung ist.

Hanya  Yanagihara:  „Zum Paradies“. Übersetzt von  Stephan Kleiner.  Claassen Verlag.  896 S., 30 Euro
Hanya Yanagihara: „Zum Paradies“. Übersetzt von Stephan Kleiner. Claassen Verlag. 896 S., 30 Euro. © Claassen Verlag | Unbekannt

Zweiter Teil des Romans startet im Jahr 1993

Das zweite Buch ist im Jahr 1993 situiert, wieder spielt das edle Haus am Washington Square eine Rolle, in dem die Binghams des ersten Buchs leben. Auch im dritten Buch wird es auftauchen: So viel Kohärenz muss sein. Der David von 1993 ist ein hawaiianischer Einwanderer, der als Anwaltsgehilfe im New York der Aids-Ära lebt. Sein Geliebter Charles ist stinkreich, älter, infiziert. Man begeht im Freundeskreis von Charles – dieser Handlungsstrang ist der literarisch stärkste des gesamten Buchs – den feierlichen Abschied von einem dem Tod geweihten Freund, der an Aids erkrankt ist.

Der Abend erstreckt sich über Dutzende von Seiten; um ihn baut Yanagihara elegant die Vorgeschichte von David und seiner Familie. Zentral ist ein Brief, den Davids Vater, ein nie im Leben Angekommener, seinem Sohn schreibt. Auch hier: Streben nach Glück, nach Freundschaft und Liebe. Aber unter den Vorzeichen der Vergeblichkeit. Ein starker Stoff, der von Yanagihara handwerklich gekonnt und sehr, sehr ausführlich in Szene gesetzt wird. Natürlich ist diese Frau eine literarische Dampfwalze, die ohne falsche Rücksichtnahme erzählt.

Yanagihara mach „Zum Paradies“ am Ende selbst platt

Und leider, darüber lässt sich nicht schweigen, macht sie dieses aufgrund seiner Konstruktion außergewöhnliche Buch dann am Ende selbst platt. Denn der dritte Teil dieses Romans, der den weit größten Raum beansprucht, ist fragwürdig. Was daran liegt, dass er eine Dystopie ist: ein Feld, das seit Jahren überreichlich beackert wird. Ein Genre, das allzu nahe liegt angesichts der seit zwei Jahren vorherrschenden Ausnahmesituation. Wie wird unsere Zukunft aussehen, wenn immer wieder Keime der Menschheit zu Leibe rücken?

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2093 ist New York, ist ganz Amerika ein Gefängnis. Pandemien und klimatische Veränderungen haben die Welt verheert, aber Amerika reagierte am strengsten. Was aus der Demokratie einen totalitären Staat macht, der Kranke in Lagern unterbringt und das soziale Zusammenleben auch in nicht pandemischen Zeiten reglementiert. Das Land verlassen darf wegen infektioneller Gefahren niemand mehr. Homosexualität fristet wieder ein Schattendasein, weil sie nicht der Fortpflanzung dient. Die Geschichte der jungen Frau, die nach dem Verlust ihres Großvaters, eines Wissenschaftlers, Liebe und Geborgenheit sucht, ist anrührend. Der Yanagihara-Zugriff: voll auf die Emo-Zwölf.

Ein Katastrophenszenario mit New Yorkern, die Waschbären essen

Mag man sich aber das Katastrophenszenario – die New Yorker essen 2093 Waschbären, tragen Kühlanzüge – noch als pessimistische Horrorshow gefallen lassen, so steht man dem pandemischen Komplex, wie er sich in „Zum Paradies“ entfaltet, ratlos gegenüber.

Nicht nur, dass dieser letzte Teil ästhetisch schwächer ist und, gelegentlicher Bombast-Toleranzen zum Trotz, auch im Gesamtgefüge zu lang. Er lässt sich vor allem zu leicht als Kommentar zur Gegenwart lesen und also als Kritik an den Corona-Maßnahmen. Ambivalent ist in Yanagiharas Buch gar nichts, das ist mindestens langweilig.