Hamburg/Stockholm. Die Hamburger Fotografin Melissa Schäfer und ihr schwedischer Partner Fredrik Granath beobachten Eisbären auf Spitzbergen. Ihre extreme Arbeit wurde zum faszinierenden Bildband, der die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis und das schwierige Überleben einer bedrohten Spezies zeigt.

Fredrik Granath und Melissa Schäfer haben sehr unterschiedliche Bilder vor Augen, wenn sie sich an die ersten Eisbären erinnern, denen sie in der Arktis begegnet sind. Fredrik erzählt davon, dass er nach einer anstrengenden Tagestour in einer Schutzhütte in tiefen Schlaf gefallen war, doch schon nach kurzer Zeit hellwach wurde. Die Decke des Raums vibrierte so stark, dass sie dem Schläfer im oberen Teil des Etagenbetts bedrohlich nah kam.

Fredrik und sein Begleiter wussten sofort, dass es ein Eisbär sein musste, der vom Dach aus eindringen wollte. Sie versuchten, den Bären durch Lärm zu vertreiben, aber das wirkte nicht.

Als es nach weiteren rohen Attacken auf die massive Hütte schließlich doch ruhig geworden war, warteten die beiden eine Weile ab. Fredrik wagte es schließlich, ein Gewehr in der Hand, die Tür vorsichtig zu öffnen. Ihm gegenüber stand ein mächtiger männlicher Eisbär und starrte ihn an. Fredrik gab Warnschüsse ab. „Der Bär sah etwas irritiert aus, aber er hatte keine Angst“, sagt Fredrik. „Er ist schließlich abgezogen, vermutlich war es für ihn eine enttäuschende Erfahrung: zu viel Aufwand, um an diese seltsame Beute zu kommen.“

Die Eisbärin erschien zum Foto-Shooting

Melissa dagegen hatte das Glück, bei ihrer ersten Reise eine Eisbärin unter idealen Bedingungen fotografieren zu können. Was zunächst nur ein beweglicher Punkt am Horizont war, erwies sich als schnell näher kommender Bär. Sie sei panisch gewesen, erzählt Melissa, aber Fredrik habe sie beruhigt: Es war keine Angriffsabsicht erkennbar. Stattdessen wirkte es, als würde die Eisbärin etwa 100 Meter entfernt an einem gewaltigen türkis schimmernden Eisblock so posieren, als sei sie zum Foto-Shooting eingeladen.

Melissa Schäfer
Melissa Schäfer © Aus dem Bildband "Das Königreich der Eisbären. Die Zukunft der Arktis" von Melissa Schäfer und Fredrik Granath | Unbekannt

Melissa war so fasziniert, dass sie alles andere vergaß, während Fredrik sie absicherte. „Ich wurde von der Situation komplett eingesogen und fotografierte, bis ich den Finger am Auslöser der Kamera nicht mehr spürte“, sagt sie.

König Carl XVI Gustaf von Schweden ehrte den Bildband persönlich

Einige ihrer Bilder von dieser intensiven Begegnung sind in einem wunderbaren Fotoband zu sehen, dessen deutsche Ausgabe kürzlich unter dem Titel „Das Königreich der Eisbären“ erschienen ist. Als das Buch in Schweden herauskam, wurde es vom WWF mit dem Panda Book of the Year Prize ausgezeichnet. Die Urkunde überreichte König Carl XVI Gustaf persönlich. Zum Erscheinen der englischsprachigen und der deutschen Ausgabe internationale Ausstellungen, Vorträge und Signierstunden geplant, doch wegen Corona wurde alles abgesagt beziehungsweise verschoben.

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Melissa Schäfer, 29, die in Alsterdorf aufwuchs, hat in Hamburg als Fotografin gearbeitet. Schon früh interessierte sie sich für Eisbären und folgte in sozialen Netzwerken Menschen, die Bilder von arktischen Exkursionen posten. Die Fotos, die Fredrik Granath veröffentlichte, waren ihr sofort aufgefallen. „Sie zeigten Eisbären nicht aus der Perspektive von oben, wie sie von einem Schiff aus entstehen — sie waren dichter dran, sozusagen auf Augenhöhe.“

Wenn das Eis knackt...

Melissa korrespondierte mit Fredrik, und sie folgte vor fünf Jahren seiner Einladung, als er eine Begleitung zum Fotografieren auf Spitzbergen suchte. Sie erinnert sich gut daran, wie sie der Mut verließ, als sie erstmals im Land der Polarbären  war und direkt mit den Schrecken des Eises und der Finsternis konfrontiert wurde. „Das war wie auf einem anderen Planeten. Die Leere, die Weite, die Gletscher, das Knacken des Eises unter uns — das alles war unheimliches Kopfkino für mich. Ich hatte Angst und fragte mich: Was mache ich hier?“

"Das Königreich der Eisbären. Die Zukunft der Arktis" © Aus dem Bildband "Das Königreich der Eisbären. Die Zukunft der Arktis" von Melissa Schäfer und Fredrik Granath | Unbekannt

Das Vertrauen in Fredrik und die schrittweise Orientierung in dieser abweisenden Welt bewirkten, dass Melissa die Arktis zu verstehen lernte. Was gerade noch erschreckend fremd war, wurde zum Sehnsuchtsort, an den Melissa seither jedes Jahr gemeinsam mit Frederik, der auch privat ihr Partner wurde, regelmäßig zurückkehrte.

Fredrik Granath begleitet Reportagen für "National Geographic"

Der Schwede Fredrik Granath (50), der früher in Stockholm im Bereich Werbung und Gestaltung arbeitete, hatte ähnliche Erfahrungen wie Melissa gemacht, als er im Sommer 2001 erstmals nach Spitzbergen reiste — „ich war vollkommen naiv“, sagt er. „Nach der ersten stürmischen Nacht waren von dem Billigzelt, mit dem ich reiste, nur noch Fetzen übrig.“ Trotz aller Widrigkeiten war auch Fredrik von der arktischen Natur rasch so überwältigt, dass er sein bisheriges Leben hinter sich ließ. Fredrik wurde — „learning by doing“ — zum erfahrenen Guide und Producer für Exkursionen und journalistische Reportagen zum Beispiel für National Geographic, seit 2016 gemeinsam mit Melissa Schäfer.

Das zu Norwegen gehörende Spitzbergen (in der Landessprache Svalbard, „Kühle Küste“) ist eine Gruppe von mehr als 400 Inseln zwischen Nordatlantik und arktischem Meer. Der gesamte Archipel ist nach seiner größten Insel Spitzbergen benannt. Zwei- bis dreitausend Eisbären leben im Winterhalbjahr an den Küsten der Inseln, neben den überwiegend einheimischen Bären auch viele, die das vom Nordpol herüberwachsende winterliche Packeis gewissermaßen als Brücke nutzen.

Auf Spitzbergen werden die Folgen der Klimaerwärmung drastisch sichtbar

Der Klimawandel ist auf Spitzbergen fast mit den Händen zu greifen.
Der Klimawandel ist auf Spitzbergen fast mit den Händen zu greifen. © Aus dem Bildband "Das Königreich der Eisbären. Die Zukunft der Arktis" von Melissa Schäfer und Fredrik Granath | Unbekannt

Fredrik und Melissa verbringen den arktischen Winter (etwa von Februar bis Mai) auf Spitzbergen. Ihre feste Basis ist die Inselhauptstadt Longyearbyen. Von dort aus machen sie mehrtägige Touren mit Gästen auf einem eisgängigen Expeditionsschiff. „Unsere Haupteinnahmequelle“, sagt Melissa. Nebeneffekt dieser Exkursionen mit Reisenden ist das, was beide antreibt: den Menschen nicht nur eine großartige Natur zu zeigen, sondern auch deren Verletzlichkeit. Denn auf Spitzbergen werden Folgen der Erderwärmung drastisch sichtbar. „Wir wollen, dass Menschen mehr Bewusstsein für Natur entwickeln — und dafür, dass Folgen ihres Handelns sogar in einer so entlegenen Region zu beobachten sind“, sagt Fredrik.

Darüber hinaus wagen Melissa Schäfer und Fredrik Granath beschwerliche Expeditionen zu zweit, zu alten Trapperhütten in die Jagdgebiete von Eisbären. Das bedeutet Tagesreisen bei unwägbarem Wetter mit Motorschlitten, auf unwegsamen Routen, die sich auf der von Gletschern bedeckten Insel ständig verändern. Der Aufwand lohnt. „Wissenschaftler betrachten Spitzbergen als Labor. An den Tieren und ihrem Lebensraum lassen sich globale Entwicklungen ablesen“, sagt Fredrik. „Wir ergänzen die objektiven Untersuchungen der Forscher, arbeiten aber emotional und studieren Eisbären als Individuen. Unsere Sprache ist einfacher und öffentlichkeitswirksamer als die wissenschaftliche. Storytelling ist wichtig. Es geht um ‚feel and connect’.“

Aus dem Bildband
Aus dem Bildband "Das Königreich der Eisbären. Die Zukunft der Arktis" von Melissa Schäfer und Fredrik Granath © Aus dem Bildband "Das Königreich der Eisbären. Die Zukunft der Arktis" von Melissa Schäfer und Fredrik Granath | Unbekannt

Gefühl für die Tiere und Verbindung zu ihnen: Fredrik lernte, das Verhalten der Eisbären zu lesen, unbedingte Voraussetzung für die stets gefährliche Arbeit der beiden. Er hat das Paarungsverhalten beobachtet, die Aufzucht von Jungtieren allein durch die Mutter. Er kennt ihre Jagdtechniken, zum Beispiel die Zickzack-Laufwege, die  vom Objekt des Interesses wegzuführen scheinen, während der Bär seiner angepeilten Beute rasch bedrohlich nah kommt. Fredriks Erfahrungswissen ermöglicht es, sich auf das zu fokussieren, was wichtig ist— und sich bei Gefahr schnell zurückzuziehen.

„Ohne Respekt vor dieser Natur kann man hier nicht überleben“

Das Leben auf dem Eis ist auch für ein eingespieltes Team wie die beiden hart. „Unsere Tage sind sehr lang, denn in der Arktis ist nichts selbstverständlich. Um Wasser zu haben, müssen wir Eis und Schnee schmelzen. Es muss oft geheizt werden, am Morgen haben wir in der Hütte unter 20 Grad Minus. Alltägliches wie Kochen und Waschen ist mühsam. Toilettengänge müssen bewacht werden. Erst wenn alles erledigt ist, können wir zum Fotografieren raus. Und immer gilt: Safety first!“, sagt Melissa. Fredrik ergänzt: „Ohne Respekt vor dieser Natur kann man hier nicht überleben.“

Trotz all dieser Widrigkeiten empfindet Melissa Schäfer, für die Hamburg-Besuche inzwischen Zivilisationsstress bedeuten, die Arktis als den Ort, wo sie ganz bei sich sein kann. Melissa sagt, sie habe sich verliebt: in die Landschaft, die Sonnenuntergänge und Polarlichter, die Eisbären. „All das, die unverwechselbaren Geräusche wie das Knacken des Eises, die polaren Farben, das lässt sich nicht mit der Kamera einfangen, aber ich versuche, meine Gefühle in den Bildern auszudrücken.“ Feel and connect, fühlen und verbinden.

"Das Königreich der Eisbären. Die Zukunft der Arktis" © Aus dem Bildband "Das Königreich der Eisbären. Die Zukunft der Arktis" von Melissa Schäfer und Fredrik Granath | Unbekannt

Melissa Schäfer und Fredrik Granath, Das Königreich der Eisbären. Die Zukunft der Arktis, Frederking & Thaler, 256 Seiten, 2020, 49,99 Euro.

Website von Melissa und Fredrik: themotherbear.com