Hamburg. Daniel Dubbes Lebens- und Werkbeschreibung hilft, diesen Schriftsteller als modernen deutschen Klassiker zu entdecken.
In „Lichtjahre“, jener eigenwilligen und doch ziemlich umfassenden Zusammenschau der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, übergeht Literaturkenner Volker Weidermann überraschenderweise Hans Erich Nossack. Auch in den einschlägigen Literaturgeschichten kommt er nur am Rande vor. Er hatte nur einen richtigen Hit, den Ehebruchsroman „Spätestens im November“. Er erschien 1955, da war Nossack, der 1901 in Hamburg geboren wurde und 1977 in seiner Geburtsstadt starb, längst kein junger Autor mehr. 1961 bekam er den Georg-Büchner-Preis. Berühmt, nach den Maßstäben der Hochkultur, war er also zeitweilig schon.
Vergessen war Nossack, der Geheimtipp für Leserinnen und Leser, die Literatur gerade dann mögen, wenn sie sepiafarben ist, in Hamburg aber nie. Im Literaturhaus etwa gab es erst 2019 einen Nossack-Abend, der Chef selbst kennt und schätzt das Werk dieses bedeutenden Nachkriegsautors.
Gründliche und genaue Werkbeschreibung
Aber Rainer Moritz ist nicht der einzige Fan Nossacks. Auch der Hamburger Autor Daniel Dubbe („Jungfernstieg oder Die Schüchternheit“) ist als solcher zu nennen; auch wenn sich bei ihm, wie er im Vorwort zu seiner Biografie „Außerhalb. Das Leben und Schreiben des Hans Erich Nossack“ gesteht, das Interesse an dem Mann, den Chefkritiker Marcel Reich-Ranicki den „Vornehmsten von allen“ nannte, erst spät einstellte. „Kennen Sie Nossack?“, fragt Dubbe, Jahrgang 1942, rhetorisch, weil er davon ausgeht und ausgehen muss, dass dem eben nicht so ist.
Sein Buch ist nicht die erste Lebens- und Werkbeschreibung Nossacks, aber eine besonders gründliche und genaue. Eine hochwillkommene: Es ist nie zu spät, einen modernen deutschen Klassiker zu entdecken. Wobei diese Studie, deren Themen bereits in nämlichem Vorwort aufgerufen werden, keinen Hehl daraus macht, dass sie insbesondere mit Nossacks Selbstzeugnissen arbeitet.
Sagen wir mal so: Dieser Mann ist allein schon deswegen ein würdiger Betrachtungsgegenstand, weil er den Sozialtypus des zurückhaltenden, für das geschriebene Wort lebenden Solitärs so beispielhaft erfüllt. Hätte es Nossack, der im Funk-Eck an der Rothenbaumchaussee verkehrte, nicht gegeben, man hätte ihn erfinden müssen.
Wer Nossack war und wie er die Welt sah
Auf was man sich im Falle dieser Biografie einlassen muss, was sich aber keineswegs notwendigerweise als Schwäche herausstellt, ist der Miteinbezug der Tagebücher, die die wichtigste Grundlage dieses Buchs sind. Nur aus ihnen erfahren wir, wer Nossack war und wie er die Welt sah. Sein Ehrgeiz, seine Selbstzweifel, sein widersprüchlicher Habitus, Schwachheiten wie sein häufiges Kokettieren mit Selbstmord, sein Hass auf Hamburg – all das entblättert sich in Nossacks selbstreferenziellen Texten. Die Tagebücher seien Nossacks „Klagemauer“ gewesen, schreibt Dubbe einmal, und das trifft es recht gut.
Er verfasste sein Tagebuch wie auch seine Briefe im festen Wissen, dass diese der Öffentlichkeit zugänglich sein werden. Aber eben erst nach seinem Tod. Was nichts daran änderte, dass er seine nach außen gewendete Person in der Niederschrift zwar ihrer jeweiligen Aufzüge entkleidete, aber dennoch Selbstinszenierung betrieb. Kein Tagebuchschreiber gibt alles preis, niemand, der neben seinem Ich auch eine spätere Leserschaft adressiert, ist bis zum letzten ehrlich in seiner Stripteaseeinlage.
Nossacks Vater war ein erfolgreicher Kaufmann
Ein in seinem Wunsch, die eigenen, sprachlich fein gearbeiteten literarischen Produkte in die Welt zu entlassen verständlicherweise eitler Autor ist die Regel und nicht Ausnahme. Was Nossack speziell macht, sind auch nicht der Missmut und die allfällige Jammerei über Einsamkeit und Ereignislosigkeit (beide Zustände suchte und brauchte er aber zum Schreiben). Nein, es ist die Abwendung von seiner großbürgerlichen Herkunft. Und der diese hervorrufende Hass auf die Mutter.
Nossacks Vater war ein erfolgreicher Kaufmann, er importierte Kaffee und Kakao. Die Familie lebte am Harvestehuder Weg. Ehe Nossack in den 1930er-Jahren in die Firma des Vaters eintrat, war seine Abkehr von der eigenen Sippe absolut. Der Zweitgeborene studierte Jura in Jena (und brach dieses Studium ab), machte eine Banklehre. Vor allem aber nahm er von den Seinen praktisch kein Geld.
Nossacks suchte ein Leben in der Kunst
Dubbe zeichnet auch die Hungerleiderjahre Nossacks nach, in denen er vorübergehend Mitglied der KPD wurde; und er arbeitet unter Bezugnahme auf Nossacks Selbstzeugnisse die Antriebskräfte Nossacks heraus: Er suchte ein Leben in der Kunst, und das erforderte zunächst die Abkehr von aller Bürgerlichkeit, später dann die bürgerliche Fassade und das geheime, wahre Leben im Bereich des Geistigen. Dies spielte sich bei Nossack in seinen Büchern, in den Briefwechselns und vor allem im Tagebuch ab.
Dubbes Blick auf Nossacks Schriften, seine einordnende (und stilistisch ansprechende) Kommentierung, gerät in diesem Buch zur durchaus angenehmen Lektüre, an deren Ende der Gewinn steht, einem Dichter näher kommen zu dürfen. Dennoch will man gleichzeitig die Primärtexte selbst empfehlen. Nossacks zwischen Hadern mit der eigenen Existenz und dem Aburteilen anderer Schriftsteller wandelner Zustand (Goethe war für ihn der „tüchtige deutsche Provinzielle in Reinkultur – unter dem anmaßenden Kostüm schaut immer der kleine Gernegroß hervor“) ist immer unterhaltsam.
Er war lange ein „Schriftsteller ohne Werk“
Und sein anvisierter Geistesadel immer elitär. „In dem Zeitalter der Vermassung erscheint es mir das Allerwichtigste, daß die Akademie das für die Kunst allein gültige aristokratische Prinzip hochhält und daher von jeder Zuwahl von Personen absieht, die nur am Durchschnitt zu messen sind“, schrieb er 1949 an Alfred Döblin, als es um die Besetzung eines hochrangigen Gremiums geht.
Es dauerte lange, bis er der erfolgreiche, tatsächlich Bücher veröffentlichende Schriftsteller wurde. Er war lange ein „Schriftsteller ohne Werk“ (Dubbe), der im Diarium Selbsthygiene betrieb. Selten war eine Abneigung gegen die Mutter so beredt wie bei Nossack. Seinem Selbstverständnis nach sei Nossack „das Produkt einer verkorksten bürgerlichen Erziehung gewesen“, schreibt Dubbe.
Gestörtes Verhältnis zu Mitmenschen
Noch mehr war er, der sich selbst ein gestörtes Verhältnis zu Mitmenschen attestierte, der sich in der Literatur versteckte und zwar intensiv zu fühlen vermochte, aber dem Leben gegenüber reserviert blieb, aber ein Produkt fehlender Mutterliebe. Am 19. April 1952 notiert Nossack: „Meine Mutter war mir überlegen; sie verstand es, in raffinierter Weise Gefühle zu verletzen. Sie versteht es noch heute, nicht nur ihren Kindern gegenüber. Sie empfindet eine Lust dabei, einen anderen vor sich selbst minderwertig zu machen.“
Buch: Daniel Dubbe „Außerhalb. Das Leben und Schreiben des Hans Erich Nossack“ (Günther Emigs Literatur-Betrieb, 390 S., 20 Euro)