Hamburg. Ein Podcast-Gespräch mit dem Pianisten Igor Levit über Höhen und Tiefen, über Konzerte und Corona, über Zweifel und Perspektiven.

Als Igor Levits Karriere begann, war er Pianist und es ging schnell steil bergauf. Pianist ist er nach wie vor, doch inzwischen auch ein populärer Kultur-Aktivist. Das vergangene Jahr hat viele Spuren hinterlassen. Levit spielte Hauskonzerte gegen die Corona-Verzweiflung auf Twitter und quälte sich als Protest gegen das Zwangs-Aus für die Kulturwelt stundenlang durch Saties „Véxations“. Vieles darüber und über ihn ist nun auch in einer Biografie nachzulesen. Ein Gespräch über Höhen und Tiefen, über Konzerte und Perspektiven.

Hamburger Abendblatt: Wir haben Ende März, gestern gab‘s die nächsten neuen Corona-Beschlüsse aus Berlin. Was macht das mit Ihrer Stimmung?

Igor Levit: Grundsätzlich oder nach gestern? Grundsätzlich fühle ich mich okay. Ich bin einfach müde. Ich glaube, das sind wir alle. Meine Batterie ist tendenziell leer, weil mir Menschen fehlen. Nach gestern bin ich zum ersten Mal in meinem Leben an dem Punkt, dass ich mich für meine Regierung schäme. Es ist noch nicht mal mehr Fassungslosigkeit. Nicht unbedingt wegen der Beschlüsse, darüber kann man streiten. Über die Art, wie Politik gemacht wird. Hier jedoch geht es um Kommunikation. Ich komme nicht darüber hinweg – und das sage ich als jemand, der gerne twittert –, dass man so die Bodenhaftung verlieren kann. Lustige Tweets, dabei gleichzeitig wissend, dass unzählige Menschen ruiniert sind oder kurz vor dem Ruin stehen.

Bekommt man Angst, in so einer Situation nicht mehr Klavier spielen zu können, zu verstummen? Derart ausgebremst zu sein, dass es unmöglich ist, auf eine Bühne zu gehen?

Levit: Vor einigen Jahren habe ich gesagt, ich würde mir lieber das Klavier wegnehmen lassen als meine Stimme. Dabei bleibe ich. Aber – und ich drücke das jetzt sehr nett aus – es ist gerade nicht leicht für mich, zu Hause zu sitzen und Musik zu machen.

Im Buch über Sie wird eine Szene beschrieben, da waren Sie 17 und sind zum großen Pianisten Grigory Sokolov gereist, um ihm vorzuspielen. Und er sagte: Wie wäre es mit Flöte spielen? Was macht das mit jemandem, der gerade in die Karriere startet?

Levit: Es hat mit mir gemacht, was immer bei mir passiert, wenn ich Dingen begegne, die ich nicht kann: Ich bin wirklich froh. Er hat mir gesagt: Fang an zu arbeiten. Ich war einige Tage geknickt, aber dann habe ich einige Weichen neu gestellt.

Nachdem Sie nun alle Beethoven-Sonaten durchgespielt und den Endgegner abgearbeitet haben, was kommt jetzt?

Levit: Diese Zeit überstehen, dann sehen wir weiter. Für mich gibt es gerade wirklich größere Fragen als die des Repertoires. Ich werde weiter Beethoven spielen, mich weiter mit Busoni beschäftigen, Schubert und Brahms. Keine Ahnung, ob ich irgendwann doch Lust habe, einen kleinen vierstündigen Sorabji zu lernen.

Wie sieht die Lage jetzt für Sie aus? Wenn Sie versuchen, nach vorn zu blicken, geht das? Kann man sich motivieren, nach vorne zu schauen und zu sagen: Da hinten ist ein Tunnel – aber ich sehe am Ende etwas?

Levit: Ich bin ja kein Pessimist. Ich mag diesen Begriff nicht, ich bin einfach am Leben. Solange ich am Leben bin, geht’s weiter. Und ich glaube nicht an das Wort nie. Und ewig ist gar nichts, und endgültig ist auch nur das Sterben. Also: Es wird sich verändern, und ich mag Veränderung. Nur weil ich sage: Klavier spielen ist gerade schwer, heißt das nicht, dass es mir schwerfällt, mich zu motivieren.

Bei einigen Buch-Passagen war ich verdutzt. Es steht da über Sie und Beethovens Opus 101: „Ich habe noch nie eine Interpretation erarbeitet.“ Das kann ich kaum glauben.

Levit: Woran ich zu Hause arbeiten kann, das stößt irgendwann an seine Grenzen. Ein integraler Bestandteil dessen, was später meine Sonate sein wird, ist natürlich das Publikum. Das ist der Live-Auftritt, das Risiko, das Gemeinsame. Dieses Gemeinsame habe ich zu Hause nicht. Im Saal mit Publikum merke ich vielleicht: Es treibt mich eigentlich in eine ganz andere Richtung. Ich habe eine Interpretation erarbeitet und jetzt präsentiere ich sie? Das halte ich für verwegen. Ständige Offenheit für Veränderungen ist mir wichtig.

Es gibt dennoch klar erkennbare Leitplanken: Steht in den Noten Allegro, sollte man nicht im Largo verenden …

Levit: Ja, aber ein Allegro nach einem Largo ist ein anderes als ein Allegro nach einem Presto oder einem Andante. Ein Forte nach einem Piano ist anders als nach einem Pianissimo. Und ein Forte heute in der Elbphilharmonie – Sie erinnern sich, Konzertsäle …

… dunkel …

Levit: … ist ein anderes als morgen bei mir zu Hause. Interpretation, was heißt das? Ist das eine Schachtel und die hört sich schön an? Der Inhalt, der wird täglich neu geboren.

An einer anderen Stelle steht, Sie seien „getrieben von dem Wunsch, nicht allein zu sein“. Wenn es ein Buch über mich wäre, weiß ich nicht, ob ich über solche Deutungen froh wäre. Dieses „Problem“ sehen Sie für sich nicht?

Levit:Es gibt Themen, über die ich nicht spreche. Aber ein integraler Bestandteil meines Lebens ist der Wunsch nach Beziehungen zu Menschen. Nie hat mich irgendwas anderes so inspiriert, interessiert, bewegt und wachgehalten.

Als es um die Twitter-Hauskonzerte geht, kommt ein Zitat: „Ich habe zum ersten Mal womöglich gefühlt, dass ich kein Fake bin.“ Da musste ich kurz tief in den Bauch atmen.

Levit: Ist aber Fakt. Diese Zeit war für mich und für uns alle eine totale Grenzerfahrung. Das Buch jetzt zu lesen ist auch für mich ein ziemlich selbstkonfrontativer Prozess. Ich hab‘ früher sehr viel durch Unsicherheit kompensiert. Dann passierten große Brüche in meinem Leben: der Tod meines engsten Freundes, einige schwere Krankheiten in der engsten Umgebung. Nach Konzerten dachte ich mir: Was hab‘ ich da gerade gemacht? Wer bin ich? Stimmt das eigentlich? Kann ich das eigentlich? Oder kommt irgendwann der Tag, an dem die Leute merken: Da ist ja gar nichts dran? Ich hatte einmal Beethoven-Sonaten in Brüssel gespielt, kein gutes Konzert, nett ausgedrückt. Ich war sehr unglücklich und erhielt Standing Ovations. Und was ich jetzt sage, das meine ich ernst, das ist kein fishing for compliments: Danach habe ich mich wirklich gefühlt wie ein nicht erwischter Dieb. Ich dachte: Warum tut ihr das? Merkt ihr nicht, was ich gerade getan habe? Das ist nach diesem Corona-Jahr nicht mehr da. So furchtbar es war, so anstrengend und so schrecklich für sehr viele Menschen, auch für mich: Es war auch ein Jahr der Emanzipation und der Befreiung.

Für wen spielen Sie? Für Sie selbst und das Publikum darf zuhören?

Levit: Für sie und mich, gleichwertig. Ich kann nur für mich allein nicht gut Musik machen. Will ich auch gar nicht.

Wie meistern Sie Tage, an denen Sie nicht wissen, wie Sie unfallfrei von einem Ton zum nächsten gelangen, geschweige denn durch eine Beethoven-Sonate? Es gibt sicher Tage, an denen Sie denken: Was ist das für ein Klotz Holz in meinem Wohnzimmer?

Levit: Dann spiele ich nicht. Und ich habe Ausweichfelder, die ich genauso intensiv nutze. Sport ist eines dieser Felder, ein nicht zu unterschätzender Ausgleich, um runterzukommen, ganz klar zu sein und unaufgeregt. Ich nehme mir meine ein, zwei Stunden am Tag und erhalte da enorm viel Stabilität.

Sie wissen aber auch, dass Sie die Tür, die Sie mit diesem Buch für die Leser geöffnet haben, nie wieder ganz schließen können.

Levit: Sie haben im letzten Frühling auch mein Wohnzimmer gesehen, und irgendwann werde ich umziehen.

Ich weiß nicht, ob man sich als Künstler nicht schon nackt genug macht, wenn man auf eine Bühne geht und sagt: so, heute Beethoven.

Levit: Ich bin kein Angstmensch. Es gibt Themen, die ich nicht erwähne, die gehen niemanden an, aber die finden im Buch auch nicht statt.

Was bedeutet Freiheit für Sie?

Levit: Darf ich mit einer kleinen Geschichte antworten? Vor zwei Wochen hab‘ ich einer Freundin gesagt: Frag mich, ob mir Konzerte fehlen, Restaurants, Bars, Reisen. Und meine Antwort war: Nein. Was mir fehlt: All das jederzeit haben zu können, wenn mir danach ist. Das ist ein sehr großes Stück Freiheit.

Was macht diese Vorbildfunktion mit jemandem, der so sehr in der Öffentlichkeit steht? Sie können ja nicht mal mehr ungestört im Supermarkt in der Nase bohren, wenn Ihnen danach ist.

Levit: Verwechseln Sie mich gerade? Ich kann sehr wohl im Supermarkt in der Nase bohren (lacht). Ich lebe mit den Konsequenzen meiner Handlungen. Wenn jemand sagt, das war falsch, sag es mir und ich gehe damit um. Und wenn es nötig ist, entschuldige ich mich, aber ich werde jetzt nicht paranoid.

Wahrscheinlich werden Sie so schnell nicht wieder zu „klassischen“ klassischen Alben zurückkommen, sondern es wird immer mehr auf Konzeptalben hinauslaufen?

Levit: Glaube ich nicht. Diese „Konzeptalben“ hatten spezifische Gründe. Ich mag Alben, die einem Komponisten gewidmet sind. Die Live-Platte und „Encounter“ waren aus dem Moment heraus geboren. Aber es war kein langfristiger Plan. Die langfristigen Pläne sind sehr klar. Ich mag zyklisches Denken. Also: wenn irgendwann Mendelssohns „Lieder ohne Worte“, dann auch alle.

Sind Sie noch Künstler oder schon Markenartikel?

Levit: Lass mich in Ruhe mit Markenartikeln. Ich bin Künstler, ich bin Mensch, ich bin Musiker. Ich hab‘ jahrelang gedacht, dass ich mehr sein will als nur: der Pianist. Und gerade jetzt wäre ich nichts lieber als einfach: Pianist. Natürlich bin ich Künstler.

Es gibt Menschen, die meinen: Der Levit, der geht mir sowas von auf die Nerven. Was passiert Ihnen beim Kontakt mit denen?

Levit: Dann geht man ins Gespräch, in die Konfrontation. Wenn jemand findet, ich sei der größte Depp, spiele den schlechtesten Beethoven nach der Mondlandung und kann kein Legato: bitte, das ist für mich total okay! Die einzige rote Linie, die ich für mich definiert habe: zum Schaumschläger erklärt zu werden. Wenn jemand sagt: Der tut nur so, als ob. Es gibt kaum Verletzenderes. Das ist für mich das Einzige: Erklär mich bitte nicht zum Fake.

Haben Sie sich ein Wunschprogramm zusammengestellt für Tag 1, an dem es wieder geht: voller Saal, man kann umarmen, wen man will? Oder ist das noch auf einem anderen Planeten?

Levit: Das erste Mal, wenn ich wieder Publikum in einem Saal sehe, egal, ob es 20 oder 100 Prozent sind – dann setze ich mich vielleicht einfach an die Bühnenkante, schaue alle an und freue mich.

Und alle fangen an zu weinen.

Levit: Ich auch. Mein Wunsch nach Analogem ist so stark, dass ich mir vorstellen kann zu sagen: Lasst mich alle in Ruhe mit allen Digitalkonzepten. Ich möchte gerne Menschen sehen und auf jedem Klavier dieser Welt mit Menschen zusammen Musik machen.

Spürt man das schon körperlich?

Levit: Es ist richtiggehend Entzug. Wenn ich diesen Gedanken zulasse, zieht es mir in der Brustgegend alles zusammen. Und ich freu‘ mich drauf.

Sind wir eigentlich noch eine Kulturnation oder ist das nur noch Behauptung, nach diesem Jahr?

Levit: (längere Pause) Ich will diesem Land – meinem Land – die Chance geben, das wiedergutzumachen, was im vergangenen Jahr passiert ist. Insofern kann ich die Frage final noch nicht beantworten. Fakt ist: Ich werde nicht rausgehen und sagen: Macht alles auf. Fakt ist aber auch: Uns wurde das Arbeiten untersagt, und gleichzeitig wurden wir allein gelassen, in großem Stil. Künstlerinnen, Künstler und Agenturen sind durch alle Raster gefallen. Was passiert, ist in vielen Dingen ein Verrat an der Kunst- und Kulturwelt, die ich sehr liebe. Es gibt Politikerinnen und Politiker, die brennen für das, was wir tun. Sie sind da und sie helfen. Insofern weigere ich mich zu sagen, alle wären blöd und wir wären keine Kulturnation mehr. Aber das gehört neu verhandelt.

Album: „Encounter“ Bach- und Brahms-Bearbeitungen von Busoni, dazu Musik von Reger und Feldman (Sony Classical, LP: ca. 27 Euro, CD: ca. 14 Euro).

Den Podcast können Sie hier hören: