Hamburg. Der Sänger setzt beim Eurovision Song Contest mit „I Don’t Feel Hate“ auf fröhlichen Ukulele-Pop mit politischer Botschaft.

„Was ist der letzte Preis?“ Ebay Kleinanzeigen können ein Tor zur Hölle sein, für den Hamburger Sänger und Musical-Darsteller Jendrik Sigwart (26) hingegen war es der Schlüssel zum Eurovision Song Contest: im Sommer 2020 sammelte er über Ebay Kleinanzeigen 18 zu verschenkende Waschmaschinen, schleppte sie in einen leer stehenden Keller, restaurierte sie und richtete sich einen „Waschsalon“ als Kulisse seines Bewerbungsvideos für den deutschen Vorentscheid ein.

Jetzt fährt er mit seinem Lied „I Don’t Feel Hate“ am 22. Mai nach Rotterdam. Oder bleibt in Hamburg, je nachdem, wie die gesamteuropäische pandemische Lage sich auf die Übertragung des ESC-Finales auswirken wird. Eine Streamingshow mit Zuschaltungen aus 41 teilnehmenden Ländern ist derzeit jedenfalls wahrscheinlicher als eine bombastische Sause mit Publikum vor Ort in der Rotterdamer Ahoy-Arena. Die Europäische Rundfunkunion plant mit vier verschiedenen, kurzfristig umsetzbaren Szenarien.

ESC 2020 wegen Corona-Krise abgesagt

Im Jahr 2020 fiel der ESC komplett ins Wasser, und damit auch der deutsche Beitrag „Violent Thing“ von Ben Dolic. Als Trostpflaster blieb Dolic die Ersatz-Show „Eurovision Song Contest 2020 – das deutsche Finale live aus der Elbphilharmonie“, wo er außer Konkurrenz sang, aber dieses Jahr wird er nicht erneut antreten. Dafür überzeugte Jendrik Sigwart bei der Vorauswahl. Alle Jahre wieder denkt sich der NDR ein neues Konzept aus, von der TV-Casting-Show bis zum Konzertevent. Mittlerweile wird wieder hinter verschlossenen Türen nach Stimmen und Liedern gesucht.

Hier mal ohne Ukulele: Der Hamburger Sänger, Songschreiber und Musical-Darsteller Jendrik Sigwart (26) vertritt Deutschland beim Eurovision Song Contest am 22. Mai in Rotterdam.
Hier mal ohne Ukulele: Der Hamburger Sänger, Songschreiber und Musical-Darsteller Jendrik Sigwart (26) vertritt Deutschland beim Eurovision Song Contest am 22. Mai in Rotterdam. © Unbekannt | NDR

Sigwart musste in drei Durchgängen zwei unabhängige Jurys aus 100 deutschen ESC-Profis und 20 internationalen Musik-Experten überzeugen – „als absoluter Nobody“, wie er es beschreibt, der sich über Umwege in der Vorentscheidung platziert hat. Kein Link, kein Aufruf, keine Webseite wies auf Bewerbungsmöglichkeiten hin.

Also leerte Jendrik Sigwart den norddeutschen Markt für Gebrauchtwaschmaschinen und produzierte ohne Budget in Eigenregie Videos für Instagram und TikTok unter dem Motto „How to make a music video, wenn du so gut wie kein Geld hast, aber einen kitschigen Song, und dich gerne beim Eurovision Song Contest damit bewerben würdest, weil du da unbedingt mal auf der Bühne stehen willst“.

Jendrik – über Umwege ins Auswahlverfahren

Viele Aufrufe hatten die Videos zwar nicht, aber einen überzeugten Zuschauer mit Kontakt zum NDR. Mit „I Don’t Feel Hate“ stach Sigwart enorme Konkurrenz aus. Für den größten europäischen Pop-Abend bereiten sich die Sendeanstalten viele Monate im Voraus akribisch vor, die renommiertesten Songschreiberinnen und Songschreiber und weitere Größen für Kompositionen, Texte und Arrangements treffen sich in „Songwriter-Camps“ und überfluten die Postfächer der ESC-Nationen mit ihren Ideen. Auch der NDR dürfte eine Menge Lieder und Interpretinnen, Sänger und Bands im Auge gehabt haben, bis Sigwart in das Verfahren hereinplatze wie ein bunter Holi-Festival-Farbbeutel. Denn genau das ist „I Don’t Feel Hate“.

Wer eine Konfettikanone abfeuert und Pulverglitzer und Sahnetorten hinterherwirft, kommt der Wirkung von Sigwarts Song sehr nahe. Schon sein bevorzugtes Instrument, die Ukulele, sorgt für fröhliche Beschwingtheit. Im Refrain kommen mit tanzbarer Dynamik Glamrock-Gitarren und Synthiebläser-Fanfaren dazu. Voll Zucker, voll bunt: „Das muss man erst einmal verdauen“, sagte NDR-Moderatorin Alina Stiegler am Donnerstag bei der Vorstellung des Songs in einer Video-Pressekonferenz.

Aber: Ganz sicher wird „I Don’t Feel Hate“ nicht als graue Maus in der Masse untergehen. Sigwarts Ausstrahlung ist positiv-sympathisch; ein wenig aufgeregt ist er, aber maximal engagiert. Sein Talent als Sänger und Entertainer schulte er von 2014 bis 2018 am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück und seit 2015 zudem in bislang 17 Musicalproduktionen, zuletzt in der Comedian-Harmonists-Show „Berlin, Berlin“. Wegen des Stillstands des Musicalgeschäfts seit März 2020 überlegte sich Sigwart ein „Corona-Projekt“. Ergebnis: „I Don’t Feel Hate“.

Botschaft: auf Hass nicht mit Hass reagieren

Für die deutsche Delegationsleiterin Alexandra Wolfslast und den ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber ist Jendrik Sigwarts Lied der richtige Song zur richtigen Zeit. Der Sänger sagt: „Es erzählt sechs Geschichten von verschiedenen Menschen, die degradiert, gemobbt und gehasst werden. Die Botschaft ist, auf Hass nicht mit Hass zu reagieren.“ Persönliche Beleidigungen nehme er eher gelassen hin, auch Kritik an seiner Musik. Aber: „Rassismus und Homophobie sind nicht egal.“

Jendrik Sigwart ahnt vielleicht schon, was nicht nur in Deutschland in den intoleranten Filterblasen des Internets über ihn geschrieben werden wird, doch homophobe Instagram-Trolle konnten schon die Triumphe von Netta Barzilai 2018, Conchita Wurst 2014 oder Dana International 1998 nicht verhindern. Der ESC war und bleibt eine große Bühne, um sich für die Rechte von lesbischen, schwulen und bisexuellen Menschen, von Transgendern und Queeren zu engagieren. Was das betrifft, ist Jendrik Sigwart der passendste Kandidat, den Deutschland bislang zum ESC geschickt hat.

Die deutsche ESC-Bilanz enttäuschend

Aber am Ende entscheidet der Song, der sich großer Konkurrenz und einer Vielzahl der Geschmäcker stellen muss. Deutschland tut sich traditionell schwer in diesem Umfeld. Seit der Hamburgerin Ann Sophie 2015 gab es nur letzte und vorletzte Plätze bis auf Michael Schultes Überraschungserfolg 2018 mit „You Let Me Walk Alone“ und einem vierten Platz.

Der ESC ist die viel zitierte Pralinenschachtel, in die man greift, ohne zu wissen, was man bekommt. Und aus Hamburg kommt dieses Jahr eine besonders bunte und süße Zuckerbombe.