Berlin. Berliner Philharmoniker spielen Konzert vor 1000 Besuchern, die alle auf Covid-19 getestet werden. Ein Beispiel für Hamburg?

„Fast die ganze Welt schaut heute auf Berlin“, sagt Andrea Zietzsch­mann als sie am Sonnabend um kurz nach 19 Uhr das Publikum in der Berliner Philharmonie begrüßt. Und die Intendantin des wohl weltweit berühmtesten Orchesters hat recht: Was hier gerade geschieht, das hat historische Dimensionen, geht es doch um nicht weniger als einen Weg aus dem Dauer-Shutdown.

Wie können (nicht nur) Kulturveranstaltungen trotz Corona wieder mit Besuchern stattfinden? Zur Klärung dieser Frage, soll der Abend dienen, der Teil eines vom Berliner Senat unterstützten Pilotprojekts ist, an dem unter anderem auch das Berliner Ensemble die Staatsoper Unter den Linden und die Volksbühne teilnehmen.

Berliner Philharmoniker spielen vor getestetem Publikum

Unter der Leitung ihres Chefdirigenten Kirill Petrenko werden die Berliner Symphoniker Tschaikowskys Fantasie-Ouvertüre „Romeo und Julia“ und Rachmaninows Symphonie Nr. 2 spielen – nicht wie zuletzt vor leerem Haus als Stream, sondern vor 1000 Menschen, die wie das Orchester selbst diesem Ereignis seit mehr als einer Woche ungeduldig entgegenfiebern. „Wo soll man, wenn nicht hier, Dinge ausprobieren...?“ setzt Berlins Kultursenator Klaus Lederer bei seiner kurzen Begrüßung an; der Rest geht im tosenden Applaus unter.

Einer von vielen Gänsehautmomenten an diesem Abend, wobei die jetzt versammelten Besucher erst seit acht Tagen wissen, dass sie dabei sein können. Um Punkt neun Uhr morgens hatte am 12. März der Kartenvorverkauf begonnen, drei Minuten später war das Konzert ausverkauft. Und das, obwohl es in diesem Fall weder reicht, kurz vor Beginn in die Philharmonie zu kommen noch entspannter Smalltalk beim Pausensekt drin ist. Ganz im Gegenteil.

Zum Abschied gibt es einen QR-Code

Bereits am Sonnabendnachmittag herrscht an und in der Philharmonie Hochbetrieb. Im Eingangsbereich des Kammermusiksaals ist ein Corona-Testzentrum aufgebaut worden, eines von mehreren in Berlin, die an diesem Tag die Konzertbesucher testen. Vorab war eine Registrierung notwendig, aber wer langes Anstehen befürchtete, wird positiv überrascht. Zwar herrscht permanenter Andrang, doch die personelle Ausstattung ist so gut, dass es zu keinen längeren Wartezeiten kommt.

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TV-Teams interviewen Besucher, während dick vermummte Mitarbeiterinnen des Testzentrums Rachenabstriche („Machen Sie mal Aaaaaah...“) vornehmen. Dauert keine Minute. Zum Abschied gibt es einen QR-Code, der nach etwa eine Viertelstunde mit dem eigenen Smartphone gescannt werden kann. Dann ist das Ergebnis da und die Frage entschieden, ob es in den sich langsam füllenden Konzertsaal geht – oder in sofortige Quarantäne. 15 Minuten, die mit etwas bangem Herzen draußen in der Berliner Winterkälte verbracht werden müssen; man weiß ja nie.

Doch dann, nach einem heißen Cappuccino vom Foodtruck, kommt er, der erhoffte Satz: „Das Ergebnis ist negativ, es konnte kein SARS-CoV-2-Antigen nachgewiesen werden.“ Also rein in die Philharmonie, wo Mitglieder der Karajan-Akademie bereits für ein Vorprogramm sorgen. Die Wege zu den unterschiedlichen Blöcken im Saal sind nicht nur mit großen Farbpfeilen gekennzeichnet, die jeweiligen Aufgänge sind sogar wahlweise in leuchtendes Gelb, schrilles Pink oder sanftes Grün getaucht. Verlaufen unmöglich. Und: Schön sieht das aus.

Endlich wieder ein (fast) richtiges Konzert

Ebenso schön ist der Anblick des immerhin zur Hälfte gefüllten Saals, in dem die Lautstärke anschwillt, als wäre er bis auf den allerletzten Platz gefüllt, als die ersten Musikerinnen und Musiker die Bühne betreten. Minutenlanger Beifall, bei dem das Glücksgefühl, endlich wieder ein (fast) richtiges Konzert erleben zu können, vergessen lässt, dass während des gesamten Aufenthalts im Haus – auch am Platz – eine medizinische Maske getragen werden muss.

Den Musikerinnen und Musikern geht es offensichtlich nicht anders: Mancher macht sogar schnell noch ein Handyfoto vom Publikum. Abstandsgebote wie im Saal – jeder zweite Platz ist gesperrt, die Sitzfläche mit einem Gurt festgezurrt – gibt es auf der Bühne nicht. Das Pharma-Technologie-Unternehmen Centogene testet seit September 2020 die Orchestermitglieder zweimal pro Woche auf SARS-CoV-2, teilt die Pressestelle der Berliner Philharmoniker mit, daher darf das Orchester mit verringerten Abständen (Streicher: ein Meter, Bläser: 1,5 Meter) sitzen und kann in voller Besetzung spielen.

Als es dann tatsächlich losgeht, gibt es daran eh keinen Gedanken mehr. Schon bei Tschaikowsky fällt unvermittelt die Last des Corona-Alltags ab, und bei Rachmaninows 2. Sinfonie erreicht das Mein-Gott-ist-das-schön-Gefühl noch mal ganz neue Dimensionen. Wie im Adagio das Orchester schwelgt, wie alle hier im Saal von den warmen Klangwogen geradezu umspült werden, das hat etwas so Tröstliches, dass einem die Tränen kommen können. Kein Huster stört diese unvergesslichen Momente, kein Handyklingeln, kein Bonbonpapiergeraschel, selbst in den kurzen Pausen zwischen den Sätzen herrscht eine fast atemlose Spannung – und den Rest schlucken die FFP2-Masken.

„Gänsehaut und Standing Ovations“

Als nach dem furiosen Finale um viertel vor neun schließlich der letzte Ton verklingt und Kirill Petrenko langsam den Stab sinken lässt, da braucht es keine Sekunde, bis der Jubelorkan losbricht. In allen Blöcken springen die Menschen auf, rufen, klatschen, dass nicht getrampelt wird, liegt nur daran, dass das im Stehen eben nicht auch noch geht. Glückstrahlende Gesichter im Orchester und ein Dirigent, der immer wieder auf die Bühne geklatscht wird.

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Irgendwann gibt der 1. Konzertmeister das traditionelle Zeichen zum Aufbruch und die Musikerinnen und Musiker gehen ab. Der Beifall indes verebbt einfach nicht, wird sogar noch einmal stärker, und dann, die Bühne ist inzwischen menschenleer, kommt Kirill Petrenko tatsächlich noch einmal heraus, verbeugt sich in alle Richtungen, legt die Hand auf sein Herz, um dann mit beinahe demütigem Blick auf den Bühnenboden endgültig den Saal zu verlassen.

„Gänsehaut und Standing Ovations“ postet das Social-Media-Team des Orchesters schon auf Facebook, bei Insta­gram und Twitter, während vor der Philharmonie noch einige Orchestermitglieder zusammenstehen, um das Erlebte hörbar fröhlich zu verarbeiten, und das Publikum den Heimweg antritt. „Es war einfach nur wundervoll. Wir sind immer noch völlig geflasht“ ist eine der Besucherreaktionen auf Facebook. „Das war großartig, bewegend und magisch“ eine andere.

Und fast alle hoffen darauf, dass dies ein Schritt in Richtung kontrollierte Öffnung ist, dass die Kultur nicht noch länger nahezu perspektivlos zum Stillstand verdammt bleibt. Dass bald weitere Konzerte folgen, nicht nur in Berlin. Auch Intendanten anderer Häuser, etwa der Elbphilharmonie, schauen genau auf das, was da in der Hauptstadt gerade passiert. „Was wir heute hier machen, dient dem Gesundheitsschutz“, hatte Senator Klaus Lederer bei seiner Begrüßung klargestellt. „Wir probieren Dinge aus, von denen andere gesellschaftliche Bereiche hoffentlich lernen können.“ Es gehe darum, bereit zu sein, wenn wieder (mehr) Normalität möglich ist.

Der ICE auf dem Rückweg nach Hamburg ist fast völlig leer

Wie weit wir von Normalität zur Zeit allerdings noch entfernt sind, zeigt die Bahnfahrt zurück nach Hamburg. Im ICE sitzen um kurz nach 22 Uhr nicht mehr als ein knappes Dutzend Reisende, wer will, hat einen Großraumwagen komplett für sich allein. Da ist der Infektionsschutz tatsächlich kein Problem.

Und: Viel Platz auch gedanklich, um den Abend Revue passieren zu lassen, der mit dem an Science-Fiction-Filme erinnernden Blick auf das virensicher vermummte Testpersonal begann und mit einem vertrauten Gefühl endete: Dem Glücksgefühl, das so nur ein mit anderen Menschen gemeinsam erlebtes Konzert bereiten kann.

Arte zeigt das Konzert am 4. April ab 17 Uhr. Es ist außerdem in der Digital Concert Hall (digitalconcerthall.com) der Berliner Philharmoniker zu sehen