Frankfurt/Hamburg. Die Autorin erhält den renommierten Buchpreis für den Roman „Blaue Frau“ – die Jury lobt die “existenzielle Wucht“ des Textes.

Zum zweiten Mal in Folge gewinnt eine Autorin den Deutschen Buchpreis. Nach Anne Weber („Annette, ein Heldinnenepos“) ist es in diesem Jahr, wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels am Montagabend bekannt gab, Antje Rávik Strubel, die die renommierte Auszeichnung erhält. Für ihren Roman „Blaue Frau“ – ein Werk, das so gegenwärtig ist wie nur irgendeines. Es erzählt vom Unglück einer Frau, hinter dem sich das Unglück ganzer Gesellschaften verbirgt.

Die junge Heldin des Romans kommt auf ihrem Leidensweg von ihrer tschechischen Heimat über die Uckermark nach Helsinki. Als Adina in Finnland strandet, ist sie am Boden, dorthin geschmettert von einem Mann, der sich ihres Körpers bemächtigte. Adina, 1984 geboren (der Roman spielt Mitte der Nullerjahre) wurde Opfer eines Vergewaltigers. Es gibt Leonides, einen estnischen EU-Abgeordneten, der ihr ein wenig Halt gibt.

Deutscher Buchpreis 2021 zeichnet „Blaue Frau“ aus

Aber die sexuelle Gewalt, die ihr widerfuhr, ist nicht etwas, was mit der Zeit verschwindet. Man kann seine Erinnerungen nicht zum Verschwinden bringen. Selbstvergessenheit ist keine Option. „Blaue Frau“ erzählt von maskulinen Dämonen und weiblichem Selbstbeharrungsvermögen. Von Macht und Ohnmacht, wie sie sich über Jahrhunderte und Generationen festsetzten.

„Blaue Frau“ ist nun gemäß dem Anspruch der seit 2005 vergebenen Auszeichnung der deutschsprachige Roman des Jahres. Er geht an eine etablierte und mehrfach ausgezeichnete Autorin, die 1974 in Potsdam geboren wurde, wo sie heute wieder lebt. Strubel machte zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin und studierte dann in Potsdam und New York Psychologie, Amerikanistik und Literaturwissenschaft. Später lebte sie unter anderem in Schweden. Strubel trat auch als Übersetzerin in Erscheinung. Sie übertrug unter anderem mehrere Bücher Joan Didions ins Deutsche.

Roman wurde im Hamburger Literaturhaus vorgestellt

Die größte Resonanz erhielt Strubel, die mit dem erfundenen Mittelnamen Rávic (später umgeändert in Rávik) ihren Künstlernamen schuf, bislang für ihre hochgelobten Romane „Kältere Schichten der Luft“ (2007) sowie „Sturz der Tage in die Nacht“ (2011).

Der nun prämierte, im August erschienene und damals auch im Hamburger Literaturhaus vorgestellte neue Roman ist ihre beste Arbeit, ein kunstvoll angerichtetes Erzähltableau, das eine schmerzhafte Geschichte trägt. Adinas Schicksal entblättert sich Stück für Stück. Als Leserin oder Leser hebt man einen epischen Schatz, dessen Schmuckstücke aus dichtgewobenen Motiven und literarischen Anspielungen bestehen.

„Blaue Frau“ überzeugte die Buchpreis-Jury

Die Autorin Antje Rávik Strubel behandle das Thema „mit existenzieller Wucht und poetischer Präzision“, heißt es unter anderem in der Begründung der Jury. Und weiter: „Die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung weitet sich zu einer Reflexion über rivalisierende Erinnerungskulturen in Ost- und Westeuropa und Machtgefälle zwischen den Geschlechtern.“

Der „aufwühlende Roman“ überzeugte die Jury augenscheinlich: „In einer tastenden Erzählbewegung gelingt es Antje Rávik Strubel, das eigentlich Unaussprechliche einer traumatischen Erfahrung zur Sprache zu bringen. Im Dialog mit der mythischen Figur der Blauen Frau verdichtet die Erzählerin ihre eingreifende Poetik: Literatur als fragile Gegenmacht, die sich Unrecht und Gewalt aller Verzweiflung zum Trotz entgegenstellt.“

Antje Rávik Strubel erhält 25.000 Euro

Antje Rávik Strubel erhält 25.000 Euro für die Auszeichnung. Die übrigen fünf Autorinnen und Autoren der Shortlist erhalten jeweils 2500 Euro. Der Jury-Entscheid für Strubel ist eine in ästhe­tischer Hinsicht unstrittige Wahl, und auch als Literarisierung des MeToo-Komplexes ist „Blaue Frau“ ein zeitgemäßer Siegertitel.

Neben Strubel waren der in Hamburg lebende Österreicher Norbert Gstrein („Der zweite Jakob“), dessen Roman von Identität und Schuld handelt, der Schweizer Christian Kracht („Euro-trash“), der den leichtfüßigsten und dabei einen literarisch dennoch durchgestylten Roman des Jahres vorlegte, Thomas Kunst („Zandschower Klinken“), Mithu Sanyal („Identitti“) und Monika Helfer („Vati“) im Finale.

Deutscher Buchpreis 2021: Auch Kracht hätte es verdient

Gerade Christian Kracht hätte man die Auszeichnung auch gegönnt; es hätte freilich eines gewissen Mutes bedurft, die persönliche Familienaustreibung Krachts zu prämieren.

Der Deutsche Buchpreis ist der Auftakt der Frankfurter Buchmesse, die wegen der Corona-Pandemie in diesem Jahr als hybride Veranstaltung teils digital stattfindet. Gastland ist Kanada.