Hamburg. Ab Freitag läuft die erste Schau nach dem Umzug an den Alten Wall. Zur Eröffnung lockt das Haus Besucher mit einer besonderen Aktion.

Hier sind wir nun. In einer Welt mit Elektroschrott-Deponien, auf denen ghanaische Arbeiter unter unwürdigen Bedingungen funktionsfähiges Material herausfischen. In der ein siebenjähriger Junge namens Mohammad nur mit Gesten von der Gewalt berichtet, die seiner Familie im syrischen Kobane widerfahren ist. Berührend, schwer auszuhalten und oftmals beschämend ist das, was die Künstlerinnen und Künstler zeigen. Wenn es doch „nur“ Kunst wäre, nicht die bittere Realität …

Mit „Here We Are Today. Das Bild der Welt in Foto- & Videokunst“ hat sich das Bucerius Kunst Forum zu seiner großen Neueröffnung an neuer Adresse auf frisches Terrain begeben und stellt erstmals Gegenwartskunst aus. Galt bislang die Zeit von der Antike bis 1960 als kuratorische Vorgabe, will man mit dieser Ausstellung überraschen, aktuell und gesellschaftlich relevant sein. Gemäß dem Slogan „Offen für Hamburg. Offen für die Kunst“ noch stärker „die Chance nutzen, Forum für Diskussionen zu sein. Und sich – als Tochter der Zeit-Stiftung, die sich für Demokratie einsetzt – auch ebendies auf die Fahnen schreiben“, sagte Geschäftsführer Andreas Hoffmann bei der gestrigen Eröffnungs-Pressekonferenz.

Heimat, Identität, Kapital sind die zentralen Themen

Es sei „Kunst, die mich betrifft“, resümiert Kathrin Baumstark, die das Haus nach dem überraschenden Weggang von Franz Wilhelm Kaiser vorübergehend künstlerisch leitet und die Ausstellung gemeinsam mit Bernhard Maaz, dem Generalintendanten der Bayerischen Staatsgalerie, kuratiert hat. Rund 90 Werke zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler setzen sich mit Identität, Heimat, Vergangenheit, Verbrechen und Kapital auseinander; die Themen gliedern auch die Schau.

Der Umgang mit der eigenen Biografie, aber auch mit der Geschichte des Heimatlandes, wurde im 20. Jahrhundert zu einem zentralen Motiv in der bildenden Kunst. Die Foto- und Videokunst in „Here We Are Today“ ist ein gezielter Abgleich mit Lebenserfahrungen. So zeigt etwa die Videoarbeit „Roja“ (2016) der Iranerin Shirin Neshat, wie Identität verloren geht, wenn man weder in der Heimat noch in der Fremde erwünscht ist.

Verborgenes offenlegen: Himmelsbilder mit Drohnen

Die deutsche Fotografin Herlinde Koelbl hat ihren Interviewpartnern immer dieselbe Frage gestellt, nämlich was Menschen täten, wenn sie plötzlich viel Geld hätten. Meine Villa, meine Weltreise, meine Stiftung, die mich unsterblich machen soll – der Film „Goldmund“ (2005) lässt tief in den Wertekanon unserer Zeit blicken.

In der Foto- und Videokunst ist vieles zu sehen, was sonst verborgen bliebe. Zum Beispiel die mit Raketen und Bomben ausgestatteten Drohnen, die winzigklein auf den großformatigen Himmelsbildern von Trevor Paglen auftauchen. Der Amerikaner fotografierte zwischen 2010 und 2015 in der Wüste von Nevada unweit einer Militärbasis. Übersieht man dieses Detail, können die Fotografien auch einfach als ästhetische Kunstwerke betrachtet werden, die in der 800 Qua­dratmeter großen Ausstellungsfläche ihre Wirkung entfalten.

Eine Ausstellung, die Kopf und Herz anspricht

„Es ist eine Ausstellung, die man mit dem Kopf, also intellektuell-wissenschaftlich sehen kann“, sagt die Kuratorin und verweist auf die Beiträge vieler namhafter Autorinnen und Autoren im Katalog (so hat die bedeutende Soziologin Jutta Allmendinger die Einführung zum Thema Heimat beigesteuert). „Diese Ausstellung berührt aber auch das Herz.“

Für den kurzweiligen Kunstgenuss in der Mittagspause ist diese Schau eher nicht geeignet. Denn, so Bernhard Maaz, besonders auf die gezeigte Videokunst müssen sich Besucher einlassen, „um innezuhalten und zu reflektieren, wie in der westlichen Welt mit Krieg, Gewalt und globalen Krisen umgegangen wird.“ Es sind die großen existenziellen Themen, etwa Mensch und Natur, die Künstler wie Andreas Gursky („Amazon“, 2016) oder Bertram Kober („Goldbach“, 2017/18) verarbeiten.

Fachwerkhäuser und schöne Gärten, aber kein Idyll

Dazu gehören auch Hass und Gewalt gegen Mitmenschen (weil sie anders aussehen oder anders denken). Mit der Fotoserie „Deutsche Bilder – eine Spurensuche“ (2006–2008) reagiert Eva Leitolf auf die Reihe massiver rechtsextremer Gewalttaten gegen Asylsuchende in den 1990er-Jahren. Sie hat die Tatorte der Anschläge, Sympathisanten im Umfeld, Opfer und unbeteiligte Zuschauer fotografiert.

Dabei entpuppen sich Orte wie das sächsische Reinhardtsdorf-Schöna mit seinen Fachwerkhäuschen und Gärten, mit Sonnenblumen und Wäscheleinen als trügerisches Idyll; gewann die NPD, die laut Presseberichten Verbindungen zu den verbotenen Skinheads Sächsische Schweiz hat, hier bei den Landtagswahlen 2004 doch 23,1 Prozent der Stimmen. Bei der Gemeinderatswahl 2014 waren es immer noch 20,5 Prozent. Kann ein solcher Ort trotzdem Heimat sein und bleiben? Eine der vielen drängenden Fragen, die die Ausstellung „Here We Are Today“ aufwirft.