Hamburg. Die No Angels Lucy Diakovska und Jessica Wahls sprechen über ihr Comeback, die Casting-Konkurrenz und den verschollenen fünften Engel.
Mit der ProSieben-Sendung Popstars und der Girlgroup No Angels („Daylight In Your Eyes“) begann im Jahr 2000 der Castingshow-Boom. Mehr als 20 Jahre später sind viele Formate und Castingbands Geschichte, aber die No Angels sind wieder da: Auf dem Album „20“ präsentieren Lucy Diakovska, Sandy Mölling, Jessica Wahls und Nadja Benaissa 20 modern arrangierte Klassiker wie „Daylight In Your Eyes“ und „When The Angels Sing“ und neue Lieder. Wir sprachen via Zoom mit Lucy und Jessy über das Comeback.
Hamburger Abendblatt: Melanie C antwortete beim Reeperbahn Festival 2020 letztes Jahr auf die Frage, ob sie lieber Spice Girl oder Solokünstlerin ist: „Ich genieße das jeweils Beste aus zwei Welten.“ Ist es bei Ihnen auch so?
Lucy Diakovska: Auf jeden Fall. Als wir letztes Jahr darüber gesprochen haben, wie unser Comeback aussehen könnte, waren wir uns einig, dass die No Angels nicht überhand nehmen dürfen, damit die anderen Hälften unseres Alltags nicht darunter leiden. Wir haben alle unterschiedliche Leben in verschiedenen Ländern.
Jessica Wahls: Also mir gefällt es ehrlich gesagt besser, musikalisch mit den Engeln unterwegs zu sein als allein. Ich liebe meinen Job beim Radio, aber da bin ich es, die die Interviews führt.
Sie haben sowohl als Gruppe als auch solo viele private und berufliche Erfolge, Reinfälle und Krisen überstanden und stehen, anders als vor 20 Jahren, mitten im Leben. Hört man das den modern arrangierten alten Hits und neuen Liedern auch an? Man legt ja Soul, die Seele mit ihren Narben in den Gesang.
Lucy Diakovska: Ich glaube Nadja konnte schon mit 18 fantastisch Soul singen.
Jessica Wahls: Die Erfahrungen des Lebens formen einen und entwickeln die Ausstrahlung. Die Lieder an sich waren früher schöne Songs, aber ich würde fast sagen, dass sie auch ein wenig leer waren. Mittlerweile sind sie mit Geschichten angefüllt, nicht nur für uns, sondern auch für die Fans. Das schwang alles mit, als wir sie neu eingesungen haben. Und sie sind geiler als damals. Beim Anhören dachte ich nur: whaaat?
Lucy Diakovska: Geile Schnecke! Dazu kommt, dass sich die Popmusik natürlich auch weiter entwickelt hat in 20 Jahren, vielseitiger, facettenreicher, mutiger und überraschender.
Können Sie noch die ganzen Choreographien oder sind Sie etwas eingerostet?
Lucy Diakovska: Eingerostet sind wir nicht. Aber wir wollten Neues probieren mit einem Kreativteam, das uns noch nicht kannte. Die haben uns sehr weit getrieben, wer uns von früher kannte, hätte sich das vielleicht nicht getraut.
Jessica Wahls: Und natürlich hat uns das auch angespornt, auf keinen Fall zu versagen.
Sie sind die erfolgreichste europäische Girlgroup außerhalb Großbritanniens, das sollte doch das Überwinden von Unsicherheiten einfacher machen, oder?
Lucy Diakovska: Wir wissen das auf jeden Fall, das ist auch der Grund, warum wir da sind.
Jessica Wahls: Wenn, dann hat man sich da privat Gedanken gemacht: Passt das jetzt? Habe ich genug Zeit? Geht das mit meinem Leben klar, was ich aufgebaut habe? Das bedarf Organisation, aber es funktioniert.
Bro’Sis, Monrose, PreLuders, Elli Erl, Tobias Regner, Charley Ann Schmutzler, Natia Todua: Diverse Castingshow-Formate haben Dutzende Gewinnerinnen und Gewinner ausgespuckt. Die meisten hat man vergessen. Sie nicht. Weil Sie die Ersten waren?
Jessica Wahls: Ich glaube, dass man Bro’Sis und Monrose auch nicht vergisst. Die Jungs-Mädels-Mischung bei Bro’Sis und der tolle Style bei Monrose und die Musik fand ich gut. Aber wir waren eben die Ersten, bei denen dokumentarisch gezeigt wurde, wie die Entstehung so einer Band und die Industrie dahinter funktioniert.
Lucy Diakovska: Ich habe da auch eine weitere Theorie: Bei uns wussten wir und das Publikum noch überhaupt nicht, wo die Reise hingeht. Auch für die Produzenten waren wir wie fünf völlig unterschiedliche Kinder, die sie beim Heranwachsen begleiteten. Die Beziehung zueinander war entsprechend enger und nicht rein professionell wie bei späteren Shows.
Jessica Wahls: Wir haben auch schnell ungeahnte Möglichkeiten bekommen, weitere Seiten von uns zu zeigen, zum Beispiel mit dem Swing-Album 2002.
Lucy Diakovska: Wir wollten uns sehr schnell sehr viel erkämpfen. Wir wollten sofort komplett live auf die Bühne, und wenn das nicht ging, waren wir sehr verärgert und traurig.
Erst seit November 2020 sind Ihre bekanntesten Hits auf Streaming-Portalen zu finden. Kriegen Sie davon überhaupt etwas ab?
Lucy Diakovska: Irgendwann schon. Wir haben … wie sagt man … faire Verträge.
Jessica Wahls: Zuerst sind natürlich die Songwriter dran. Wir haben ja erst mit dem zweiten Album langsam angefangen, auch selber Lieder zu schreiben.
Lucy Diakovska: Kauft deswegen lieber unsere neuen signierten Fanboxen. Wir haben die nicht umsonst durch Bulgarien, Deutschland und die USA geschickt, um sie zu unterschreiben.
Lukrativer als Streaming sind Tourneen. Werden wir die No Angels nach langer Zeit auch wieder auf der Bühne sehen?
Jessica Wahls: Wir wissen natürlich, dass wir sehr privilegiert sind, weil wir zusammen Musik machen können und ein Album veröffentlichen. Vielen, vielen Künstlerinnen und Künstlern und ihren Teams geht es im Moment überhaupt nicht gut. Aber wie alle brennen wir und haben riesige Lust, wieder auf die Bühne zu gehen und hoffen, dass diese Pandemie endlich überwunden wird.
Lucy Diakovska: Wenn es wieder los geht, müssen erst mal Hunderte Bands ihre ausgefallenen Touren nachholen. Da ist es schwer zu sagen, wann wir eventuell auch dran sein könnten. Aber wir sind da.
Bis auf Vanessa Petruo. 2003 bei den No Angels ausgestiegen, hat sie sich vor Jahren von der Musik verabschiedet, ihren Doktor gemacht und arbeitet als Neurowissenschaftlerin in Los Angeles. Vermissen Sie den fünften Engel?
Lucy Diakovska: Vanessa und Musik sind nie zu trennen, und ihre Stimme ist nicht zu ersetzen. Aber als ich 2006 mit ihr über unser erstes Comeback sprach, hatte sie schon mit den No Angels und der großen Bühne abgeschlossen. Sie hat einen Weg gesucht und gefunden, Menschen auf ganz besondere Weise kennenzulernen und ihnen noch besser zu helfen als mit Musik: durch die Psychologie. Ich bewundere sie dafür.
Jessica Wahls: Der Weg, den sie gewählt hat, war der richtige für sie. Trotzdem vermissen wir Vanessa. Ohne sie hätte es die No Angels nie gegeben. Und deshalb wird es nie einen anderen fünften Engel geben.
No Angels: „20“ Album (BMG Rights) im Handel