Hamburg. Der russische Regisseur Serebrennikov ist in Hamburg. Mit seiner Ausreise konnte niemand rechnen. Bleiben will er nicht.

Seit der russische Theaterregie-Star Kirill Serebrennikov am vergangenen Wochenende überraschend in Hamburg gelandet ist, hat er kaum eine freie Minute. Vier Jahre lang durfte er sein Land nicht verlassen und wurde wegen angeblich veruntreuter Staatsgelder zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, lange saß er im Hausarrest. In diesen Tagen begleitet er nun die Endproben der Inszenierung „Der schwarze Mönch“ nach Anton Tschechows gleichnamiger Erzählung, die anlässlich des Thalia-Festivals „Um alles in der Welt - Lessingtage 2022“ am 22. Januar Uraufführung feiert.

In der Mittagspause muss ein Apfel genügen. Am Handgelenk trägt Serebrennikov eine Uhr ohne Ziffernblatt als Armband. Das sei eine schöne Metapher für Kunst, weil Kunst ihre eigene Zeit schaffe, sagt er und lacht. Er wirkt gelöst und voller Tatendrang. Er spreche lieber über Kunst als über Politik, sagt Kirill Serebrennikov. Eine Begegnung.

Hamburger Abendblatt: Wie kam es zu der überraschenden Erlaubnis, für die Endproben von „Der schwarze Mönch“ nach Hamburg reisen zu dürfen?

Kirill Serebrennikov: Ich war sehr überrascht. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin wirklich sehr froh, hier zu sein. Ich habe die Erlaubnis aber nicht bekommen, weil ich so großartig wäre. Es ist ein Geschenk, ein Wunder dass jemand das richtige Papier unterschrieben hat, aber es ist kein Anlass zum Feiern. Es ist kein Sieg für mich in irgendeiner Weise.

Fühlen Sie sich hier nun gut aufgehoben? Haben Sie überlegt, vielleicht länger zu bleiben?

Serebrennikov: Wir alle leben in einem Zustand der Angst und Bedrohung schon durch die Pandemie. Ich empfinde, was alle fühlen. Ich habe versprochen, dass ich zurückkomme und ich bin eine verlässliche Person. Ich könnte mich nicht anders verhalten.

Was hat Sie davor bewahrt, zu verzweifeln und verrückt zu werden während der 20 Monate Hausarrest?

Serebrennikov: Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit. Ich habe immer gedacht, wenn jemand will, dass ich verrückt werde oder mich zerstöre, muss ich überleben, noch stärker werden. Ich muss die Zeit nutzen, um mich selbst neu zu erfinden. Ich muss etwas Gutes für die Menschen tun. Manchmal ist eine Zeit der Isolation gar nicht so schrecklich. Sie kann sehr nützlich und wichtig sein, um sich selbst zu verstehen und zu orientieren. Ich bin außerdem Buddhist.

Sie haben die Leitung des berühmten Gogol Centers in Moskau verloren. Wie schwierig ist das für Sie? Können Sie weiterhin in Moskau arbeiten?

Serebrennikov: Als ich 2012 die Möglichkeit erhielt, sollte ich das Haus zwei Spielzeiten lang leiten. Daraus wurden achteinhalb Jahre. Nach mir kommen andere. Das ist keine Tragödie. Ich mag es nicht, wenn Menschen zu lange an der Macht bleiben. Das ist auch für mich eine Chance. Ich wollte nicht bis zum Tod bleiben und im Foyer verbrannt werden. Ich muss die nächste Periode meines Lebens erfinden. Glücklicherweise habe ich Arbeit in Deutschland und Frankreich und einige internationale Filmprojekte.

Sie haben mit „Der schwarze Mönch“ eine eher unbekannte Novelle von Anton Tschechow für Ihre Inszenierung am Thalia Theater ausgewählt. Was fasziniert Sie an dem Stoff? Und wie ist Ihr Verhältnis zu Tschechow, der ja in Ihrer Heimat eine Art Nationalheiliger ist?

Serebrennikov: Ich hatte mir in Russland selbst ein Moratorium auf Tschechow auferlegt. Allein in Moskau gibt es derzeit zehn Inszenierungen von „Die Möwe“, 33 Versionen der „Drei Schwestern“, Dutzende „Kirschgärten“. Die Regisseure inszenieren und inszenieren die gleichen Zeilen. Ich wäre der letzte, ihn in Russland zu inszenieren, aber als ich einen Stoff für das Thalia Theater suchte, kam mir sehr schnell die Idee zu „Der schwarze Mönch“. Tschechows letzte Worte waren auf Deutsch „Ich sterbe“. Das fand ich unglaublich. Also suchte ich nach einem Stück über Leben, Tod, Verrücktsein. Das führte mich zum „schwarzen Mönch“.

In „Der schwarze Mönch“ versucht ein überarbeiteter und schlafloser Universitätsprofessor während eines Besuchs bei seinem Pflegevater auf dem Land neue Kraft zu schöpfen. Auf einem Spaziergang in der Natur begegnet er einem schwarzen Mönch. Was ist dieser Mönch für eine Täuschung?

Serebrennikov: Es geht um die Illusion von Freiheit. Um die Suche nach einem Raum, um frei zu sein und sich lebendig zu fühlen. Die Notwendigkeit zu spüren. Das betrifft auch unser aller Situation gerade. Die Menschen erkennen diesen Raum zwischen Sein und Nichtsein, Leben und Tod. Das Theater ist ein Ort, an dem das Unsichtbare sichtbar wird. Wir versuchen jenseits der Literatur zum Kern vorzudringen, zwischen den Zeilen zu lesen. Wir erzählen die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven.

Ist die Hauptfigur Kowrin ein Genie, ein Auserwählter, verdammt zum Größenwahn? Und was besagt der Ausspruch „Geh zur Herde!“ in dem Zusammenhang?

Serebrennikov: Kowrin versucht zu verstehen, was es heißt, ein Genie zu sein. Hat ein Genie mehr Rechte als andere? Mehr Freiheiten im Handeln? Es geht um die Bandbreite von Möglichkeiten. Die sozialen Probleme sind dabei wie ein Spiegel. Wir haben keine konzeptionelle, soziale Botschaft. Es geht mehr darum, zum Denken zu animieren. Sich selbst neu zu erfinden.

Ihr ästhetischer Zugang umfasst ein sehr physisches Theater mit einer Mischung aus Text, Tanz und Musik. Wie funktioniert das?

Serebrennikov: Es ist auch diesmal sehr physisch und musikalisch. Wir haben vier Tänzer, vier Sänger und sieben Schauspielerinnen und Schauspieler. Die Essenz der Produktion ist, jeden Tag zu kreieren. Auch Licht und Sound tragen zu einem sehr komplexen Gebilde bei.

Sie sind ja berühmt geworden als Erfinder und Ideengeber einer russischen Theater-Avantgarde. Häufig haben Sie dabei den Einfluss der orthodoxen Kirche kritisiert, Minderheiten verteidigt und den Gedanken von Repräsentation auf der Bühne hinterfragt. Was steckt in dieser Arbeit?

Serebrennikov: Diesmal geht es mehr um Gedanken des Alltags, um eine Meditation über Höheres. Das reicht über soziale Aspekte hinaus. Ich glaube, dass diese Dinge genauso wichtig sind.

Sie haben einmal gesagt, das höchste und wertvollste Gut in Russland sei nicht die Macht der Regierung oder der Medien, sondern die russische Kultur. Sie sei es wert, für sie zu leiden. Hat der Satz noch Gültigkeit für Sie?

Serebrennikov: Ich bin überwältigt von russischer Kultur, auch von deutscher Kultur. Das sind europäische Werte, die kann man nicht hoch genug schätzen. Wir müssen arbeiten und diese Arbeit teilen und schützen. Das ist ganz wichtig. Ich möchte, dass die Menschen, die nach mir kommen auch dieses großartige Theater, diese tolle Musik erleben können – und nicht nur auf kahle Wände starren.

Sie haben ja viel Erfahrung im Regieführen über digitale Plattformen wie Zoom. Lange vor der Pandemie war es Ihre einzige Arbeitsmöglichkeit. Was haben Sie am meisten vermisst?

Serebrennikov: Ich will mich nicht über die Neuen Medien beklagen. Ich liebe das 21. Jahrhundert und warte auf eine bessere Digitalisierung. Sie gibt uns mehr Zeit für die Kunst und alles andere. Ohne die Neuen Medien hätte ich niemals Opern inszeniert. Aber natürlich werden wir auch die Tradition bewahren, die Zerbrechlichkeit des Theaters, der Kunst. Aber sie sollte mit allen möglichen Medien verbunden sein.

Haben Sie die große Unterstützung und Solidarität in der Welt eigentlich wahrgenommen? Und hat sie Ihnen geholfen?

Serebrennikov: Ja, natürlich. Allen Menschen, die mich unterstützt haben, die an den offiziellen Stellen in Berlin Position bezogen, rufe ich ein lautes ‚Danke’ zu! Viele Menschen – auch am Thalia Theater – haben mir einen fast familiären Beistand geleistet. Es ist so wichtig, dass wir weiterhin zusammen sind. Jenseits von digitalen oder politischen Mauern. Unsere Welt und unsere Brüderschaft existieren. Diesen Menschen gehört all meine Liebe und ich bin glücklich, dass ich es ihnen jetzt persönlich sagen kann.

„Der schwarze Mönch“ Uraufführung 22.1., 19 Uhr, weitere Vorstellungen 23.1. 18 Uhr, 24.1., 20 Uhr, 25.1., 19 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de