Hamburg. Lorenz Nolting wagt sich an Goethes „Faust“: Der Gelehrte und Mephisto fehlen, dafür gibt es fünf Gretchen. Durchaus unterhaltsam.
Wo ist Faust? Zu sehen ist der Gelehrte nirgends. Und auch sein Widersacher Mephisto, ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, ist nur eine hauchende Stimme im glühenden Rotlicht. Stattdessen eilen gleich fünf Gretchen durch das Labyrinth seiner Gelehrtenräume und ihrer eigenen Gedanken. Der junge Regisseur und Theaterakademie-Absolvent Lorenz Nolting wagt sich in seiner als „Langgedicht nach Goethe“ betitelten Uraufführung „Faust Gretchen Fraktur“ an nichts Geringeres als an „Faust“, den kanonischen Klassiker der Theatergeschichte schlechthin. Doch ihn interessieren weniger die edlen Verse als die Leerstellen, das Ausgesparte. Zum Beispiel die Gewalt.
Und so beginnt es mit einem etwas anderen Prolog. Gabriela Maria Schmeide erscheint darin mit dichter Blondfrisur, Tarnjacke und Sonnenbrille. Die Reinkarnation von Timothy Treadwell, der, wie der Film „Grizzly Man“ erzählt, 13 Sommer bei Bären in Alaska ausharrte. Seine selbstverliebte Ablichtung mit breitem Machismo-Grinsen verkennt nur eine Tatsache – er war nicht allein. Doch die weibliche Begleitung wird unterschlagen. Dieser Hinweis dient Nolting als Anker, um nun fünf Gretchen sozusagen eine Faust bilden zu lassen und gegen jede patriarchale Kunstlesart zurückzuschlagen.
„Faust Gretchen Fraktur“: Stimmige Dichte, fröhliche Spiellust und ein High-Noon-Moment
Robin Metzer hat eine Leinwand mit Kamin und eine blutrote prankige Hand als Eingang zu einer Art Höllenschlund gebaut. Daneben ruht ein Brunnen aus Autoreifen mit kopflosen Männerstatuen. Ein wenig Trash, ein wenig Geisterbahn. Dazu säuselt oder pulsiert dezente elektronische Musik von Alexander Zwick.
Nolting mangelt es nicht an Visionen, die er gemeinsam mit einem furios aufspielenden Spielerinnen-Quintett umsetzt. In der von ihm geschätzten Arbeitsform des „Automatic Writing“ hat er sowohl schnell verfasste Sätze als auch originale Verse ineinander verschränkt. Die fünf von Lea Jansen in weiße Unschuldsblusen und -röcke gekleideten Gretchen Meryem Öz, Pauline Rénevier, Gabriela Maria Schmeide, Oda Thormeyer und Anna Maria Köllner stehen zusammen, sprechen im Chor, stützen einander und meistern den Parcours mit Bravour. Anders als im „Grizzly“-Film hat hier jede ihren größeren Auftritt. Das Tempo ist vor allem zu Beginn hoch, die Szenen sind rasant geschnitten.
Thalia Gaußstraße: Fünf Gretchen als furchtlose Rampensäue
Die Theatermittel, die Nolting hier bis zum Exzess auslebt, kennt man schon von seinem Beitrag zum Theatermarathon „Hymnen an die Nacht“, da zeigte er zu vorgerückter Stunde „Woyzeck – Das schärfste Messer Deutschlands“ als Solo der furchtlosen Schauspielerin Anna K. Seidel. Furchtlose Rampensäue müssen die fünf Gretchen hier auch sein. Es ist, als durchlebten sie eine endlose Walpurgisnacht. Mal zieht es sie in den Supermarkt. Dann wieder vor ein Fast-Food-Restaurant. Schließlich baut sich lockend der Porsche Heinrich Fausts vor den Gretchen auf. Nolting lässt sie bevorzugt ihre eigene Sicht der Dinge schildern. Das hat bei allem Chaos auf der Bühne etwas erfrischend Selbstermächtigendes.
Ensemble-Neuzugang Anna Maria Köllner überzeugt mit kraftvoller Präsenz. Auch Pauline Rénevier wirft sich mit Spielfreude in jede behauptete Situation. Gabriela Maria Schmeide wiederum hat einen grandiosen Auftritt, in dem sie den abgeklärten, gierigen Faust und ein burschikoses, wehrhaftes Gretchen im Wechsel spricht.
Goethes „Faust“: Ohne den Gelehrten und Mesphiso, aber mit fünf Gretchen
Nolting und das Ensemble legen einen Schwerpunkt auf die tragischen Szenen, die gedankenlose Verführung des schon bald verliebten – und geschwängerten – Mädchens durch den lüsternen Sinnsucher. Dieser ist, so erzählen es die Gretchen, beflügelt durch den Teufelspakt, der ihm, dem Überdrüssigen, der alles gesehen, jede Theorie gewendet hat und nun schwitzend und scrollend vor dem Leben wie vor einem ausufernden Computerspiel hockt, bislang nicht gekanntes Begehren verspricht. In einer feindlichen Umwelt, in der weder Mutter und erst recht keine Kirche ihr Halt bieten, bleibt Gretchen nur der entsetzliche Kindsmord mit anschließender Gerichtsverhandlung. Wird Gretchen auf einen Deal eingehen, der noch ein wenig Zukunft lässt? Oder landet sie im Kerker?
Nolting kennt seine Mittel und nutzt sie mitunter im Überschwang – das aber ist ein legitimes Privileg der Jugend. Für die Zuschauer ist es meistens anregend und durchaus unterhaltsam. Gerade im ersten Teil findet der Abend zu einer stimmigen Dichte voll fröhlicher Spiellust, in der zweiten Hälfte wird es ernster, stiller. Die ruhigen Passagen tun dem Abend gut, auch wenn manche der 12 Strophen etwas langatmig erscheinen. Am Ende liegt es bei den Gretchen, sich für einen großen High-Noon-Moment zu sammeln. Sie haben es in der Hand.
„Faust Gretchen Fraktur“ weitere Vorstellungen heute 28.4., 19 Uhr, 6.5., 20 Uhr, 20.5., 19 Uhr, 21.5., 19 Uhr, 1.6., 20 Uhr, 19.6., 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de