Hamburg. Mithilfe von künstlicher Intelligenz wollen Hamburger Forschende ein Prognosesystem für die Auslastung im Regionalverkehr entwickeln.
Lassen sich überfüllte Bahnsteige und proppevolle Züge verhindern mithilfe eines Prognosesystems, das auf künstliche Intelligenz setzt? Das erprobt ein Konsortium um die HafenCity Universität (HCU) bald in Hamburg, voraussichtlich am Harburger Bahnhof. „Wir wollen einen digitalen Zwilling des Bahnhofs entwickeln, also eine Simulation, von der Anbieter wie die Deutsche Bahn und Fahrgäste im öffentlichen Personennahverkehr profitieren könnten“, sagt HCU-Präsident Jörg Müller-Lietzkow.
Für ihr zunächst bis Ende 2024 angesetzte Forschungsprojekt erhält die Gruppe rund 16 Millionen Euro vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr. Beteiligt sind auch die Technische Universität Hamburg, die Universität zu Lübeck, die Rheinland-Pfälzische Universität Kaiserslautern-Landau und die Bonner Firma Breuer Nachrichtentechnik. Für eine Kooperation mit der Deutschen Bahn gibt es eine Absichtserklärung.
Künstliche Intelligenz: Was der „digitale Zwilling“ des Bahnhofs bringen soll
Die Planung für das Vorhaben begannen nach dem Ansturm auf das 9-Euro-Ticket. Dieses Angebot nutzten sehr viele Menschen – was aus Sicht der Befürworter einer umweltschonenden Mobilität sehr erfreulich war. Die Kehrseite: Zeitweise war der Nahverkehr erheblich überlastet, es gab viele Störungen, Zugpersonal musste Überstunden machen. Das Nachfolgeangebot 49-Euro-Ticket, auch Deutschlandticket genannt, sorgt der Bahn zufolge bisher ebenfalls für mehr Fahrgäste.
Für Prognosen zur Auslastung insbesondere im Regionalverkehr ergeben sich aber Unwägbarkeiten, sagt HCU-Präsident Jörg Müller-Lietzkow. Informationen, die sich früher zumindest teilweise aus Ticketverkäufen und Fahrplananfragen gewinnen ließen – wer fährt voraussichtlich wann wohin mit welcher Verbindung –, entfielen nun. „Das 49-Euro-Ticket ist ein großer Erfolg, hat aber zu einer Reihe von Herausforderungen wie überfüllten Zügen zu bestimmten Zeiten und weniger Planbarkeit insgesamt geführt.“ Erschwerend komme hinzu: Die Bahn könne durch ihre Zählsysteme bisher nur grob einschätzen, wie viele der wartenden Menschen auf Bahnsteigen in Zügen einsteige.
Geplant ist, im Harburger Bahnhof ein 5G-Netzwerk und Sensoren einzurichten
Die Forschenden nennen ihr Projekt „Fahrplanoptimierung-Plus“ – Plus deshalb, weil sie der Deutschen Bahn nicht deren Fahrplanoptimierung abnehmen können, aber Auswertungen von Personenströmen und Erkenntnisse daraus liefern wollen, die etwa zeigen, zu welchen Zeiten auf bestimmten Verbindungen mehr oder weniger Züge eingesetzt werden sollten. Das Vorhaben sei so angelegt, dass es auch auf andere Bahnhöfe bundesweit übertragen werden könnte.
Für den Harburger Bahnhof sei geplant, dort ein sogenanntes 5G-Campus-Netzwerk zu installieren, vergleichbar mit einem WLAN, das sich mit Handys nutzen lässt, aber basierend auf dem jüngsten Mobilfunkstandard 5G, der eine bis zu 100-mal schnellere Datenübertragungen möglich machen soll. Mit diesem Netzwerk sollen dann im Bahnhof zu installierende Sensoren und Messsysteme verbunden werden.
Chef der HafenCity-Uni: „Wir werden kein Überwachungssystem installieren“
Geprüft werde, ob auch die im Harburger Bahnhof vorhandenen Kameras für das Projekt genutzt werden dürfen, sagt Müller-Lietzkow. Kamerasysteme sollten dann nur Schemata erfassen, keine scharfen Bilder aufnehmen. Eine spezielle Software könne aus den Aufnahmen und Sensordaten aber eine Zahl an Menschen und möglichst Informationen über deren Bewegungen ableiten.
Zudem ließen sich in einem 5G-Campus-Netz prinzipiell zusätzlich Funkzellen in Empfangsreichweite erfassen, ohne dabei die Handybesitzer zu identifizieren. „Wir achten selbstverständlich den Datenschutz und die Privatsphäre und werden kein Überwachungssystem installieren“, sagt Müller-Lietzkow. Die Installation der nötigen Technik im Harburger Bahnhof werde voraussichtlich im Frühjahr 2024 beginnen.
Künstliche Intelligenz: Weniger volle Züge und frühzeitige Informationen über Andrang?
Die gesammelten Daten zu Menschenströmen im Bahnhof und auf den Bahnsteigen zu bestimmten Zeiten und zu Einsteigenden werden Müller-Lietzkow zufolge in ein KI-gestützte Prognosemodell einfließen, das im Abgleich mit weiteren frei verfügbaren Daten aus Fahrplänen, aber auch zu geplanten Großveranstaltungen und zum erwartenden Wetter eine Einschätzung zum Fahrgastaufkommen liefern sollen. „Für die Nutzenden von ÖPNV und Bahn ergeben sich so über die Zeit smarte Taktungen, wahrscheinlich weniger volle Züge oder zumindest frühzeitigere Informationen, mit welchen Situationen zu rechnen sein wird.“
Das neue Forschungsprojekt unter Federführung der HafenCity Universität sattelt auf einem gerade abgeschlossenen Vorhaben auf, dessen Ergebnisse die Hochschule heute vorstellt. Es setzt dort an, wo GPS-basierte Apps zur Navigation an ihre Grenzen stoßen: in Innenräumen.
HCU-Forschende haben eine neue App entwickelt, die es mithilfe von Gebäudedaten und eines in der Uni installierten 5G-Netzwerks möglich macht, sich via Handy vom Eingang der Hochschule etwa zum Präsidiumsbüro im vierten Stock navigieren zu lassen. Prinzipiell, sagt Jörg Müller-Lietzkow, könnte dieses System auch in Messehallen, Krankenhäusern und Flughäfen eingesetzt werden – und in Bahnhöfen.