Hamburg. Vor 40 Jahren zogen sie erstmals in die Bürgerschaft ein – mit Stricknadeln und Grünpflanzen. Seither ist einiges passiert.
Ihr Einzug schien die fest gefügte Ordnung des Hohen Hauses ins Wanken zu bringen – und das war volle Absicht: Vielen altgedienten Parlamentariern verschlug es fast die Sprache, als die frisch gewählten Abgeordneten der Grünen vor 40 Jahren erstmals auf den Bänken der Hamburgischen Bürgerschaft Platz nahmen.
Die neun Neuen kamen in verwaschenen Jeans und Turnschuhen. Statt Aktenkoffern hatten sie Plastiktüten oder Jutetaschen dabei, aus denen sie Stricknadeln und Wollknäuel zogen. Einer von ihnen brachte gar eine Grünpflanze mit, wohl um den ökologischen Anspruch der Partei zu unterstreichen. Die Provokation war inszeniert, die Botschaft klar: Die Neuen pfiffen auf die Würde des Hauses. Sie waren gekommen, um den eingefahrenen Politikbetrieb der Altparteien aufzumischen. Verunsichert konsultierte das Bürgerschaftsdirektorium erstmal das Regelwerk des Parlaments. In der Plenarsitzung stricken, Grünpflanzen mitbringen – war das erlaubt?
Bürgerschaft: Als die Grünen Hamburgs Politik aufmischten
40 Jahre später gehören die Grünen selbst längst zum politischen Establishment. Sie sind nicht nur Altpartei wie CDU oder SPD, sondern auf dem Weg zur bürgerlichen Volkspartei. Sie wollen nicht mehr nur mitmischen, sondern drängen an die Spitze. Daran ließ Katharina Fegebank keinen Zweifel, als sie zur Wahl 2020 als Bürgermeister-Kandidatin antrat. Aus Duellen sind Trielle geworden. Wenn sie mitregieren – in Hamburg oder auf Bundesebene – oder wie in Baden-Württemberg sogar den äußerst populären Ministerpräsidenten stellen, verschreckt das kaum noch jemanden. Die Grünen haben Themen auf die Agenda gesetzt, die mittlerweile zum politischen Mainstream gehören, auch wenn nicht alle vom Umbau Hamburgs zur Fahrradstadt begeistert sind.
Linke, Atomkraftgegner, Anarchos, Öko-Pazifisten und Bürgerinitiativen
Der Blick auf ihre Ursprünge macht deutlich, wie lang der Weg ist, den auch die Hamburger Grünen in 40 Jahren zurückgelegt haben. Ende der 1970er-Jahre formierten sich Linke, Atomkraftgegner, Anarchos, Öko-Pazifisten und Bürgerinitiativen zu einer Bewegung. Aus der vom Kommunistischen Bund dominierten „Bunte Liste/Wehrt Euch“ entwickelte sich die „Alternative Liste“. Um bessere Wahlchancen zu haben, schloss sich die Bunte Liste mit den Grünen zusammen: die Geburtsstunde der Grün-Alternativen Liste (GAL), wie sich die Partei in Hamburg lange Zeit nannte.
Haufen politischer Paradiesvögel passte eher an AKW-Bauzaun
Schon die politische Herkunft prominenter Aktivisten wie Thomas Ebermann, der Fraktionssprecher in der Bürgerschaft und später im Bundestag wurde, verortete weite Teile der damaligen grünen Mannschaft ganz links. Die Galionsfigur der Fundamentalisten mit Bürgerschreck-Image und beträchtlichem rhetorischen Talent kam vom Kommunistischen Bund zu den Grünen. Sie wollten die „radikale, aber konstruktive Opposition“ und liebten die Maximalforderung. Kaum verwunderlich, dass sie vielen zunächst wie ein bunter Haufen politischer Paradiesvögel erschienen, die eher am AKW-Bauzaun oder den besetzten Häusern der Hafenstraße zu Hause waren als auf den Ledersitzen im Rathaus.
Auch bundesweit galten die Hamburger Großstadt-Grünen als besonders links. Mit ihnen wären damals nicht einmal Joschka Fischer oder Otto Schily eine Koalition eingegangen, lästerte der frühere Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD). Für ihn war die Ökopartei damals „intolerant, inkompetent, ideologisch und unernst“.
Warum Thea Bock spontan einen Handstand schlug
Dennoch holte die GAL 1982 aus dem Stand 7,7 Prozent der Stimmen. Als die Spitzengrüne Thea Bock auf einer Wahlparty von dem Ergebnis erfuhr, machte sie spontan einen Handstand. Die Sportlehrerin aus Moorburg, die über ihr Engagement zum Schutz des Süderelberaums zur Politik gekommen war, führte die erste grüne Bürgerschaftsfraktion gemeinsam mit Ebermann an. Damit, dass ihnen der Einzug gelingen würde, hatte sie nicht wirklich gerechnet, wie sie viele Jahre später erzählte. Und auch wenn die unkonventionellen Neu-Parlamentarier die Provokation zu zelebrieren schienen, war ihnen tatsächlich auch etwas beklommen zumute. Die Bürgerschaft galt als Hohes Haus, „und wir waren auch ein bisschen ängstlich und unsicher, ob wir dem wohl gewachsen sind“, sagte Thea Bock. „Doch das hat sich bald gegeben. Die erste Zeit war unheimlich fröhlich, dann wurde die Auseinandersetzung härter.“
Wahlwette verloren: Thomas Ebermann stieg im Januar in die Elbe
Thomas Ebermann musste wenige Monate später eine Wahlwette einlösen und stieg im Januar in die eisigen Fluten der Elbe. Aktionen wie diese sicherten der Partei die Aufmerksamkeit der Medien. Auf dem Höhepunkt eines Skandals um die Erhöhung der Diäten nahmen die Abgeordneten in Frack und Zylinder als Bonzen verkleidet im Parlament Platz, während es von der Tribüne übergroße Geldscheine regnete. Quälend lange Debatten prägten die Mitgliederversammlungen; es galt das Konsensprinzip und die Rotation des politischen Personal.
Deutschlands erste reine Frauenfraktion schrieb Geschichte
1986 sorgten „Freche Frauen“ als Deutschlands erste reine Frauenfraktion für Furore. Deren Vordenkerin Adrienne Goehler hatte in den Theatern der Stadt die passenden Outfits für den großen Auftritt der Frauen besorgt: 13 Nadelstreifenanzüge für die 13 Abgeordneten. SPD- Bürgermeister Klaus von Dohnanyi trug damals gern Nadelstreifen. „Das wollten wir persiflieren“, erzählt Eva Hubert, damals Mitglied der Frauenfraktion und später langjährige Chefin der Hamburger Filmförderung. „Es gab so viele reine Männerlisten in der Geschichte des Parlamentarismus, dem wollten wir etwas entgegensetzen.“
Henning Voscherau lobte die „Damen von der GAL“
Was wie ein forscher Spaß-Auftritt aussah, war jedoch Ergebnis eines zähen innerparteilichen Ringens und spiegelte die Zerrissenheit der Partei. Im erbitterten Kampf zwischen „Realos“ und „Fundis“ einigte man sich auf die Frauenfraktion als gemeinsamer Nenner. Doch nach knapp 120 Tagen war der Spaß vorbei – als die „Hamburger Verhältnisse“ der Legislaturperiode ein Ende setzte es Neuwahlen gab. Die Grünen von damals wollten keinesfalls Regierungsverantwortung übernehmen, sondern höchstens punktuell mit der SPD stimmen. Deren damaliger Fraktionschef Henning Voscherau bescheinigt den „Damen von der GAL“ immerhin, „viel sachlicher und emotionsloser kooperiert“ zu haben als die meisten GAL-Männer.
Erbitterte Flügelkämpfe zwischen „Realos“ und „Fundis“
Doch bald verzettelten sich die Grünen immer stärker in Flügelkämpfen zwischen „Realos“ und „Fundis“. Die Wahlergebnisse blieben schwankend, die Grünen als dritte politische Kraft unberechenbar. Der Wandel begann Ende der 1980er-Jahre. Als die Grünen nach dem Fall der Mauer auf ein Fortbestehen der DDR mit einer reformierten SED/PDS als tragender Kraft setzten, erklärte sich ein Großteil der Fraktion als vom Landesverband unabhängig. Nach heftigem Streit begann der Siegeszug der Realpolitiker.
In die Partei von einst wären die meisten heutigen Spitzengrünen gar nicht erst eingetreten. Umgekehrt haben viele Grünen-Aushängeschilder von damals die Partei längst verlassen – wie beispielsweise Thomas Ebermann, Rainer Trampert, Adrienne Goehler, aber auch Thea Bock und eben Eva Hubert.
Auch Willfried Maier, der später zu den besten Redner der Bürgerschaftsfraktion gehörte, kam ursprünglich von ganz links. Der Mitbegründer der Grünen hatte seine politischen Wurzeln im Kommunistischen Bund Westdeutschlands und beim Komitee für Demokratie und Sozialismus. Von 1997 bis 2001 war der mittlerweile allseits geschätzte kluge Kopf Senator für Stadtentwicklung, Bundes- und Europaangelegenheiten im Kabinett vom Ortwin Runde (SPD). „Aus meiner Sicht sind wir alle Realos“, beschrieb die Hamburger Grüne Krista Sager 2001 die Ausrichtung ihres Landesverbandes. Mit ihr war 1997 erstmals eine Grüne Zweite Bürgermeisterin der Hansestadt geworden. Später leitete sie die Grünen-Bundestagsfraktion mit.
Beteiligung am Kosovo-Krieg führt zum Bruch
Auf dem Weg in die Mitte hat sich die Partei vielfach gehäutet. Nicht nur setzten sich „die Realos“ gegen „die Fundis“ durch, diese Kategorien spielen in der Partei längst keine Rolle mehr. Aus Protest gegen die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg verließen Grünen-Angeordnete wie Heike Sudmann und Norbert Hackbusch die Fraktion, um die parlamentarische Gruppe „Regenbogen“ zu gründen und sich später der Linksfraktion anzuschließen. 2008 gingen die Grünen sogar ein Regierungsbündnis mit der CDU, dem politischen Hauptgegner von einst ein, und bildeten in Hamburg die erste schwarz-grüne Koalition auf Landesebene – auch um sich strategisch aus der Umklammerung durch die SPD als einzig möglichem Bündnispartner zu befreien.
Grüne Senatorin musste Kohlekraftwerk genehmigen
Ausgerechnet die grüne Stadtentwicklungssenatorin Anja Hajduk musste das verhasste Kohlekraftwerk Moorburg genehmigen, das – erst 2014 in Betrieb genommen – seit 2021 bereits wieder stillgelegt wurde. Die Grünen legten ihren Namen GAL (Grün-Alternative Liste) ab und hießen fortan auch in Hamburg „Bündnis 90/Die Grünen“, denn, wie die heutige Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank argumentierte: „Wir sind keine Liste mehr, sondern eine Partei.“
Die meisten Stimmen holen Grüne jetzt an der Alster
Und die ist bürgerlicher, als sich dies die Gründungsgrünen wohl je hätten vorstellen können. Längst hat die Partei ihre Hochburgen nicht nur im linksalternativen Schanzenviertel und Altona, sondern auch in den Stadtteilen rings um die Alster und – mit Abstichen – in den Elbvororten im Westen und den Walddörfern im Nordosten der Stadt. Bei der Bürgerschaftswahl 2020 verdoppelte sie ihren Stimmenanteil annähernd von 12,3 auf 24,2 Prozent. In Rotherbaum – Harvestehude – Eimsbüttel-Ost kam sie sogar auf 39 Prozent.
Klimaschützern von Fridays for Future geht grüne Politik längst nicht weit genug
Das Rotationsprinzip ist längst abgeschafft. Heute wirbt die Partei offensiv mit ihren Spitzenköpfen. Die Senatoren tragen vielleicht nicht Nadelstreifen, aber doch oft feinen Zwirn. Die Grünen sind erwachsen geworden, mit 40 soll das wohl so sein. Die Partei sieht sich selbst weiterhin als kreativ und unkonventionell, manche finden sie aber auch einfach angepasst. Gerade die Grünen sind es, die in diesen Monaten besonders laut nach mehr Waffenlieferungen für die Ukraine im Krieg gegen Russland rufen. Druck bekommt die Partei heute eher von links: Den Klimaschützern von Fridays for Future geht ihre Politik längst nicht weit genug. Ab und zu blitzt aber weiterhin die Lust der Grünen an der Provokation auf. Umweltsenator Jens Kerstan legt sich ein ums andere Mal mit den sozialdemokratischen Bürgermeistern an. In seiner politischen Rauflust kann er sich fast mit den Grünen der ersten Stunde messen.