Hamburg. Die Kassen leer wie nie, in der Pandemie fast täglich neue Höchststände. Das Rathaus plant dennoch Wegweisendes für 2022.
Sehen wir es mal positiv. Keine Generation in der Geschichte der Menschheit war bei so vielen bedeutsamen Ereignissen am Leben wie die Älteren unter uns. Mondlandung, Erfindung von Internet und Smartphone, Europapokalsieg des HSV und Jahrtausendwende – und nun die erste echte Pandemie, nebst der unfassbar schnellen Entwicklung von Impfstoffen und der weltweiten Etablierung der Homeoffice-Videokonferenz. Mehr geht ja wohl nicht. Na gut, das dritte Pandemiejahr hätten wir jetzt nicht mehr gebraucht – aber überstehen werden wir auch das. Krisen sind ja immer auch Wachstumschancen.
Allerdings, bei aller Mutrede muss man trotzdem wissen: Das Jahr 2022 wird eine harte Nuss – auch für die Hamburger Politik. Nicht nur drohen durch die Omikronvariante die bisher höchsten Infektionszahlen. Zugleich sind die Kassen durch die Krise leer wir lange nicht – und die Aufgaben groß wie selten zuvor. SPD und Grüne müssen in einem neuen Klimaplan festlegen, wie sie die Stadt klimagerecht umbauen und was sie Betrieben und Bürgern abverlangen wollen.
Landespolitik: Das nimmt sich Hamburg fürs nächste Jahr vor
Zugleich steigen die Mieten immer schneller, und die Energiepreise sind zum Jahreswechsel so dramatisch hoch, dass viele Mieter durch horrende Nachforderungen 2022 in wirtschaftliche Not geraten könnten. Die Wohnkosten halbwegs bezahlbar zu halten, das bleibt auch 2022 eine der wichtigsten Aufgaben der Politik.
Trotz aller Nöte wird Hamburg weiter durch Umgestaltung zentraler Plätze aufgehübscht, der Bau der U 5 beginnt, der Ausbau des Radverkehrs geht weiter, und die Pläne für den Stadteingang Elbbrücken mit dem Elbtower nehmen immer konkretere Gestalt an.
2022, so darf man wohl mutmaßen, wird mit noch nicht besiegter Pandemie und schlechter Kassenlage einerseits eine Zeit des Heulens und Zähneklapperns – zugleich aber auch ein Jahr, in dem die Stadt für eine gute Zukunft wegweisende Entscheidungen treffen kann.
Pandemie, Hamburger Hafen und der gute Ruf der Hansestadt
„Die wichtigste Aufgabe im neuen Jahr ist natürlich die Überwindung der Pandemie und die Bewältigung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Folgen“, sagte Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) auf die Abendblatt-Frage nach den drei für ihn wichtigsten Herausforderungen und Chancen Hamburgs im kommenden Jahr. „Dazu müssen wir gut mit der neuen Bundesregierung zusammenarbeiten und die Impfungen konsequent fortsetzen.“ Im ersten Halbjahr 2022 werde der Senat einen neuen Hafenentwicklungsplan beschließen „und damit die zukünftige Ausrichtung des Hamburger Hafens festlegen“, so Tschentscher.
„Das ist eine grundlegende Entscheidung für die maritime Logistik, unsere Industrie und den gesamten Wirtschaftsstandort.“ Viel verspricht sich der Senatschef vom im Herbst beginnenden Vorsitz Hamburgs im Bundesrat. „Das ist eine große Chance, die Bekanntheit und den guten Ruf Hamburgs zu stärken“, so Tschentscher. Es gehe auch darum, „die Position der Stadtstaaten wirksam gegenüber dem Bund zu vertreten“.
Wasserstoff-Produktion in Moorburg? EU entscheidet
Sozialsenatorin Melanie Leonhard macht ebenfalls klar, dass der Kampf gegen das mutationsfreudige Coronavirus zunächst Vorrang hat. „Wenn wir die Pandemie nicht hinter uns lassen, werden fast alle anderen Themen, die für den Alltag wichtig sind, weiter davon beeinflusst sein“, so Leonhard. „Das erste Ziel muss es sein, mit vielen Impfungen und Auffrischungsimpfungen ein Schutzniveau zu erreichen, das uns hilft, mehr Normalität zu erlangen.“ Dabei gehe es auch darum, die Folgen der Pandemie auf dem Arbeitsmarkt „überschaubar zu halten“ – und etwas gegen den Fachkräftemangel zu unternehmen. Bei alldem will Leonhard aber auch ein zentrales politisches Versprechen des Senats nicht aus den Augen verlieren: den Ausbau der Kindertagesbetreuung.
Fragt man Schulsenator Ties Rabe nach seinen drei wichtigsten politischen Plänen für 2022, so konzentriert er sich ganz auf ein zentrales Anliegen: „Ich wünsche mir sehr, dass Deutschland dem Vorbild anderer europäischer Länder folgt und mit Rücksicht auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen die Schulen in der Corona-Krise nicht erneut schließt. Kinder und Jugendliche brauchen für ihre soziale Entwicklung und für gute Bildung offene Schulen, sie brauchen das Lernen in der Gemeinschaft mit ihren Lehrkräften, sie brauchen einen strukturierten Tagesablauf. Kein Computer kann das ersetzen.“
SPD und Grüne werden im nächsten Jahr feilschen müssen
Am heftigsten gestritten werden dürfte 2022 bei der Aufstellung des neuen Doppelhaushalts für 2023/24. „Jeder muss wissen, was die Stunde geschlagen hat“, warnt SPD-Finanzsenator Andreas Dressel schon mal vorab. „Diese wird eine der schwierigsten Haushaltsaufstellungen seit 2011.“ Grund: Die Einnahmen sind durch Corona geschrumpft – die Ausgaben aber deutlich gewachsen. 2023 wird es zudem keine Möglichkeit mehr geben, Sonderkredite für die Corona-Lasten aufzunehmen: Man kehrt zur Schuldenbremse zurück. „Wir werden auch bei politisch gewünschten Vorhaben manches schieben beziehungsweise strecken müssen“, so Dressel. Sollen also weniger Straßen saniert oder Radwege gebaut oder am Klimaschutz gespart werden? Kürzt man bei der Verwaltung oder spart man in Kitas und Schulen?
Wie und wo genau „gestreckt und geschoben“ wird, darüber werden die Behörden und SPD und Grüne 2022 wohl so intensiv feilschen wie lange nicht mehr. Bis März müssen die Behörden ihre Bedarfe anmelden, im Juni entscheidet der Senat, im Herbst die Bürgerschaft. Linken-Fraktionschefin Sabine Boeddinghaus spricht sich schon jetzt dafür aus, in diesen schweren Zeiten die Schuldenbremse zu lösen. „Corona hat gezeigt, dass Menschen mit weniger Einkommen es in Hamburg immer schwerer haben“, so Boeddinghaus. „Schlechtere medizinische Versorgung in ärmeren Stadtteilen, unzureichende soziale Angebote, aber auch die steigenden Mieten und HVV-Preise lassen sich nicht beseitigen, solange die Schuldenbremse gilt und im Haushalt gekürzt wird.“
„Der neue Wissenschaftsstadtteil nimmt weiter Fahrt auf“
Derweil beginnt 2022 auch die Vorbereitung für die neue Grundsteuer – die nicht nur Hausbesitzer, sondern mittelbar auch alle Mieter betreffen wird. Vom Sommer an sollen die Grundbesitzer erste Angaben zur Neuberechnung machen. Bezahlt werden muss die neue Grundsteuer dann von 2025 an.
Trotz der klammen Kassen will der Senat auch 2022 weiter am Wachstum und der Modernisierung der Stadt arbeiten. So freut sich Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne), dass Hamburg „mit der Science City Bahrenfeld als Forschungs- und Wissenschaftsstandort in die internationale Spitze aufsteigt“. Auch 2022 seien dort größere Bauvorhaben im Genehmigungsverfahren, „sodass der neue Wissenschaftsstadtteil weiter Fahrt aufnimmt“. Wohin der Stadtteil wohl fährt? Zugleich will die auch für Bezirke zuständige Zweite Bürgermeisterin die Kundenzentren modernisieren. Termine sollen schneller vergeben, Wartezeiten verkürzt und mehr Dienste digital angeboten werden.
„Wir könnten als erste Stadt den Doppelaufstieg schaffen“
Auch die anderen grünen Senatoren haben 2022 viel vor. Justizsenatorin Anna Gallina will die Justiz besser gegen Hasskriminalität stärken – und gegen zunehmende Radikalisierung etwa von Kritikern der Corona-Politik. Als Verbraucherschutzsenatorin möchte sie dafür sorgen, dass weniger Lebensmittel weggeworfen werden – durch Vernetzung von Großspendern und Verteilern.
Verkehrssenator Anjes Tjarks will 2022 neben dem Großprojekt U 5 die Verkehrswende auch durch die Elektrifizierung von Bussen und Taxis voranbringen. Dabei weiß er wie kein anderer die Opposition in seinem Nacken. „Es fehlt weiterhin ein Generalverkehrsplan, der aufzeigt, wie der Verkehr in Hamburg schnell und sicher abgewickelt werden soll“, moniert etwa CDU-Fraktionschef Dennis Thering. „Wir stehen bereit, gemeinsam mit dem Senat einen Zukunfts-Verkehrskonsens zu erarbeiten.“
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HSV und St. Pauli: Hamburger Doppelaufstieg in 2022?
Der grüne Umweltsenator Jens Kerstan wird unterdessen 2022 Klimaplan und Klimagesetz überarbeiten – und es dabei auch mit Haushaltslöchern zu tun bekommen. Je weniger Geld für Anreizzahlungen zur Verfügung steht, umso stärker wird der Senat wohl mit Ordnungspolitik arbeiten müssen, sprich: mit klimapolitischen Anordnungen und Verboten, was etwa Neubauten, Industrie oder Verkehr angeht. Für Kerstan und den parteilosen Wirtschaftssenator Michael Westhagemann gleichermaßen wichtig ist eine andere für 2022 erwartete Entscheidung: Im Frühjahr teilt die EU mit, ob der Senatsplan zum Aufbau einer Produktion von grünem Wasserstoff am Standort des bisherigen Kohlekraftwerks Moorburg als wichtiges europäisches Projekt eingestuft wird. Kommt der EU-Stempel, könnten noch 2022 die nationalen staatlichen Mittel freigegeben werden. 2025 soll der Elektrolyseur dann den Betrieb aufnehmen.
SPD-Innensenator Andy Grote wird sich derweil auch 2022 mit Extremismus von rechts und links, aus dem Islamismus und von manchen Corona-Leugnern auseinandersetzen und daran arbeiten, dass auch Polizei und Feuerwehr irgendwann in den Genuss aller Segnungen des Digitalzeitalters kommen. Als Sportsenator möchte er mit HSV und FC St. Pauli Historisches erleben. „Ich wünsche mir natürlich, dass wir die erste Stadt sind, die einen Doppelaufstieg hinbekommt“, so Grote. AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann fordert derweil, auf „den grassierenden Islamismus mit aller gebotenen Härte zu reagieren“.
Der Haushalt für 2023/24 wird die anspruchvollste Aufgabe
Hamburgs Chef-Intellektueller und SPD-Kultursenator Carsten Brosda weist darauf hin, dass die Hanseaten „in herausfordernden Zeiten künstlerische Impulse und kulturelles Erleben brauchen, um die gesellschaftlichen Aufgaben vernünftig zu bewältigen“. Zunächst will Brosda den Kulturschaffenden weiter helfen, durch die Pandemie zu kommen. Außerdem geht es ihm darum, dass die Stadt „Vielfalt als Bereicherung“ begreift – und sich ihre Bürger „gegen jene Kräfte stellen, die den Diskurs verengen wollen“. Dabei sei auch ein offener Umgang mit der Geschichte wichtig. Dafür stehe etwa der 2022 startende künstlerische Wettbewerb zur zeitgemäßen Umgestaltung des umstrittenen Bismarckdenkmals, aber auch die Rückgabe der in der Kolonialzeit geraubten Benin-Bronzen aus Hamburgs Museen an Nigeria.
Auch wenn 2022 stark durch das Gezerre ums knappe Geld geprägt sein dürfte: Vor Beginn des schwierigen Jahres sind sich die Fraktionsvorsitzenden der rot-grünen Koalition noch weitgehend einig in der Lagebeurteilung. Anspruchsvollste Aufgabe 2022 sei es, einen Haushalt für 2023/24 aufzustellen, der nicht zu Kürzungen führe, sagt SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf.
Im Hamburger Rathaus hat man gute Vorsätze fürs neue Jahr
„Wir müssen weiterhin in Zukunftsthemen wie den Klimaschutz investieren und für genug Wohnungsbau sorgen.“ Grünen-Fraktionschef Dominik Lorenzen setzt ähnliche Schwerpunkte. „Der Klimaschutz bleibt das Megathema“, so Lorenzen. „Aber auch die steigenden Energiekosten sind eine Riesenherausforderung für die Menschen.“ Hier müsse Rot-Grün „eine Lösung präsentieren“ und den Bürgern „Angebote machen“.
An guten Vorsätzen mangelt es also nicht im Rathaus. Was von ihnen wohl Bestand hat? „Die Zukunft ist der Raum unserer Freiheit“, hat der Philosoph Karl Jaspers gesagt, sprich: Es ist immer alles drin. Und falls es 2022 mal nicht rundläuft, gibt es laut Ex-US-Außenminister Dean Acheson immer noch diesen Trost: Es kommt immer nur ein Tag auf einmal.