Hamburg. Ties Rabe spricht über bisherige Lehren aus der Pandemie, Leistungsdefizite von Schülern und die Furcht vor einer zweiten Welle.
Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) hält die komplette Schulschließung wegen der Corona-Pandemie aus damaliger Sicht nach wie vor für richtig, seitdem habe sich die Erkenntnislage jedoch verändert. "Es gibt keine belastbaren Beweise, aber doch unübersehbar starke Indizien, die darauf hinweisen, dass Kinder und Jugendliche bei den Infektionen nur eine geringe Rolle spielen“, sagte Rabe im Abendblatt-Interview zu Beginn der Sommerferien.
Staaten wie Dänemark, die früh ihre Schulen wieder geöffnet hätten, und Bundesländer wie Hamburg mit einer durchgehenden Notbetreuung in Kitas und Schulen hätten dennoch „keine rasant gestiegenen Infektionszahlen“ verzeichnet. „Es gibt weitere Indizien, die darauf hindeuten, dass wir Corona im Bezug auf Kinder und Jugendliche überschätzt haben“, sagte der Schulsenator.
Schulsenator Ties Rabe will zurück zum regulären Unterricht
Nach den Ferien wird auch Hamburg zum regulären Unterricht in den allgemeinbildenden Schulen zurückkehren, wenn das Infektionsgeschehen es zulässt. „Das soll ein kompletter Neustart werden, also volle Unterrichtsstundenzahl in der Schule und das normale Ganztagsangebot“, sagte Rabe.
Den SPD-Politiker treibt die Furcht vor einer zweiten Corona-Welle um, weil erneut eine Urlaubszeit bevorsteht, die mit den Skiferien im März in Hamburg schon einmal zu hohen Infektionszahlen führte. „Ich will vermeiden, dass die Schulen wieder die Zeche dafür zahlen, dass einzelne im Urlaub über die Stränge schlagen“, sagte Rabe.
Ties Rabe kritisiert Schulschließung in Gütersloh
Eine erneute Schließung der Schulen wäre „tragisch“, so der Senator. „Ich wünsche mir, dass alle in der Politik erkennen, dass die Schulen kein Infektionsherd sind“, sagte Rabe, der kritisierte, dass nach dem Corona-Ausbruch in der Gütersloher Fleischfabrik „sehr schnell die Schulen geschlossen wurden“. Er wünsche sich, so Rabe, dass bei Maßnahmen zur Verhinderung einer zweiten Welle „die Schulen nicht zuerst drankommen“.
Vier Frauen, acht Männer: Das ist der neue Senat
Lesen Sie hier das ganze Interview mit dem SPD-Politiker:
Herr Rabe, Sie gehen in Ihre dritte Amtszeit und können nun der Schulsenator mit der längsten Amtsdauer werden. Der dienstälteste Kultusminister sind Sie schon. Sind Sie auf Rekordjagd? Was bedeutet Ihnen diese schon jetzt ungewöhnlich lange Zeit im Amt?
Ties Rabe Ich freue mich, dass das bislang gut geklappt hat. Ich jage aber keinen Rekord, sondern habe Freude an meiner Arbeit. Und ich freue mich darüber, dass ich die Chance bekommen habe, das fortzusetzen, denn es ist noch viel zu tun.
Woran denken Sie?
Das größte Projekt ist, dass wir die steigenden Schülerzahlen mit einem gewaltigen Schulausbauprogramm begleiten wollen. Mehr als 40 neue Schulen werden gegründet. Das ist eine spannende und wichtige Aufgabe, die mich sehr reizt. Es geht aber auch darum, weitere Akzente im Bereich Bildung zu setzen. Die Hamburger Schüler sind in Deutsch und Mathematik besser geworden. Aber wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen. Und wir müssen mehr tun für die Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Stadtteilen.
Sie sind in den zurückliegenden Wochen stark kritisiert worden: zuerst wegen der fast kompletten Einstellung des Schulbetriebs, dann wegen der schrittweisen Wiederöffnung der Schulen, die vor allem betroffenen Eltern als zu zögerlich erschien. Haben Sie – rückblickend – Fehler gemacht?
Am Anfang bin ich kritisiert worden, weil ich die Schulen nicht radikal genug geschlossen habe. Dabei hat sich unsere Hamburger Notbetreuung für alle Kinder, die Unterstützung brauchten, im Nachhinein als goldrichtig herausgestellt. Dann wurde ich kritisiert, weil ich die Schulen angeblich zu langsam geöffnet habe.
Dabei halten wir uns bei der Öffnung der Schulen an die Verabredungen mit den anderen Ländern und tanzen nicht aus der Reihe. Sechs Länder, Hamburg eingeschlossen, haben frühe Sommerferien. Als einziges dieser sechs Länder hat Schleswig-Holstein die Grundschulen komplett vor den Ferien für den Regelunterricht geöffnet. Die anderen fünf Länder sind sich einig, dass ein solches Manöver so kurz vor den Ferien keinen Sinn macht. Wir sind also in guter Gesellschaft.
Die Einschätzung der Gefährdungslage durch führende Virologen hat die Entscheidungen der Politik entscheidend mitbestimmt. Haben Sie manche Kritik an Ihnen deswegen als ungerecht empfunden?
Nun ja, ich wundere mich manchmal über die schnellen Meinungsänderungen. Man sieht an den Vorgängen in Gütersloh und anderswo, dass das Coronavirus nach wie vor eine latente Gefahr darstellt. Am Anfang gab es manchmal eine übertriebene Angst, da wünschten sich alle radikale Schulschließungen, und heute gibt es manchmal eine übertriebene Sorglosigkeit. Da ist es nicht immer leicht, einen vernünftigen Kurs zu halten. Aber ich glaube, dass unser Kurs richtig ist.
Hätte es mit dem Wissen von heute – geringe Infektionsrate bei Kindern und durch Kinder – jemals Schulschließungen gegeben?
Mit dem Wissen von damals waren die Schließungen damals richtig. Heute sehen die Wissenschaftler die Verbreitung der Corona-Pandemie deutlich differenzierter. Eine ganze Reihe von Experten bezweifelt, dass Kinder und Jugendliche ein so starke Rolle im Infektionsgeschehen haben. Diese Wissenschaftler sagen heute, dass man damals die Schulen vorsichtiger und nicht so umfassend hätte schließen sollen. Aber die Wissenschaft ist sich in der Bewertung nach wie vor nicht einig.
Immerhin sprechen für die These auch die geringen Infektionszahlen nach der schrittweisen Öffnung der Schulen.
Es gibt keine belastbaren Beweise, aber doch unübersehbar starke Indizien, die darauf hinweisen, dass Kinder und Jugendliche bei den Infektionen nur eine geringe Rolle spielen. Staaten, die wie Dänemark die Schulen sehr früh wieder geöffnet haben, haben dennoch keine rasant gestiegenen Infektionszahlen. Und Bundesländer wie Hamburg mit einer durchgängigen Kita- und Schul-Notbetreuung ebenfalls nicht. Es gibt weitere Indizien, die darauf hindeuten, dass wir Corona im Bezug auf Kinder und Jugendliche überschätzt haben.
Sie haben angekündigt, dass die Schulen nach den Sommerferien in den Regelbetrieb zurückkehren. Gilt das nun für alle Schulen, Klassen und Schüler?
Wir arbeiten noch daran, wie es mit den Berufsschulen weitergeht. Sicher sind wir uns aber, dass die Grund- und weiterführenden Schulen einen vollen Unterrichtsbetrieb organisieren sollen, wenn das Infektionsgesehen im Großen und Ganzen so bleibt.
Wird es ein kompletter Neustart sein oder doch erst mal schrittweise?
Das soll ein kompletter Neustart werden, also volle Unterrichtsstundenzahl in der Schule und das normale Ganztagsangebot mit der Früh- und Spätbetreuung, also vor 8 Uhr und nach 16 Uhr. Das heißt, dass die Abstandsregel von 1,50 Meter im Unterricht aufgehoben werden muss. Trotzdem müssen wichtige Hygieneregeln eingehalten und Notfallpläne erarbeitet werden.
Lehrer, die einer Risikogruppe angehören, können sich vom Präsenzunterricht befreien lassen. Werden Sie am 6. August genug Schulpädagogen an Bord haben, um den Präsenzunterricht zu gewährleisten?
Auf dem Höhepunkt der Corona-Krise konnten sich Lehrer, die über 60 Jahre alt sind oder an chronischen Krankheiten leiden, vom Präsenzunterricht befreien lassen. Diese Richtlinie werden wir ändern, weil wir im Gleichklang mit allen Bundesländern die Attestpflicht einführen. Künftig werden Ärzte also die medizinische Bewertung im Einzelfall vornehmen, ob eine Befreiung wegen zu hohen Risikos nötig ist oder nicht. Das bisherige System, dass Lehrer selbst entscheiden konnten, ob sie zum Unterricht gehen, wird keinen Bestand haben.
Wie wird es also nach den Ferien aussehen?
Ich habe die große Hoffnung, dass wir nur wenige Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht vermissen werden. Das deutete sich in den vergangenen Wochen schon an. Drei von vier Lehrern über 60, die zu Hause bleiben durften, sind trotzdem zum Präsenzunterricht in die Schulen zurückgekehrt. Es gibt mittlerweile ein bisschen mehr Gelassenheit.
Befürchten Sie eine zweite Corona-Welle?
Die Furcht treibt mich in der Tat um. Wir gehen jetzt in eine Urlaubszeit, und die erste Corona-Welle in Hamburg war auch sehr klar mit einer Urlaubszeit verbunden. Menschen hatten sich beim Skilaufen angesteckt, und Hamburg wurde dadurch einer der Hotspots der Pandemie. Ich fürchte eine zweite Welle nach den Ferien vor allem deshalb, weil ich vermeiden will, dass die Schulen wieder die Zeche dafür zahlen, dass Einzelne im Urlaub über die Stränge schlagen.
Und was passiert, wenn die Infektionszahlen wieder in die Höhe schießen sollten?
Eine erneute Schließung wäre tragisch. Aber genau kann man das noch nicht sagen. Ich wünsche mir, dass alle in der Politik erkennen, dass die Schulen kein Infektionsherd sind. Deswegen hat es mich schon sehr gewundert, dass in Gütersloh, wo in einer großen Fleischfabrik das Coronavirus ausgebrochen ist, sehr schnell die Schulen geschlossen wurden. Das leuchtet mir nicht richtig ein. Bei den Maßnahmen, die zur Verhinderung einer zweiten Welle getroffen werden, wünsche ich mir, dass die Schulen nicht zuerst drankommen.
Ist eine erneute komplette Schließung angesichts des Bildungsauftrags der Schulen überhaupt vorstellbar?
Wenn es darum geht, Menschenleben zu retten, darf man keine Variante ausschließen. Die letzten Monate haben aber auch gezeigt, dass wir das Kindeswohl, das Recht der Kinder auf Bildung und soziale Entfaltung, sehr, sehr ernst nehmen müssen. Wir müssen den Mut haben abzuwägen zwischen den Risiken der Krankheit und den Risiken für die Entwicklung der Kinder, wenn Schulen geschlossen werden.
Wie fällt Ihre Bilanz des zweiten Halbjahrs in puncto Lernfortschritt der Schüler aus?
Ehrlicherweise wissen wir es zurzeit nicht. Ich habe deshalb Studien in Auftrag gegeben, die zu Beginn des neuen Schuljahres in vier Klassenstufen den Lernstand aller Schülerinnen und Schüler untersuchen. Dann haben wir größere Klarheit darüber, wie sich die Corona-Krise ausgewirkt hat. Grundsätzlich bin ich nicht so pessimistisch wie manche Skeptiker, die behaupten, dass in den letzten Wochen gar nichts gelernt wurde.
Unsere Befragung von Eltern, Schülern und Lehrkräften hat zwar ergeben, dass der Unterricht in der Schule besser gewesen wäre, dass aber zum Beispiel gerade ältere Schüler an weiterführenden Schulen auch im Fernunterricht zu Hause sehr viel gelernt haben. Teilweise haben sich Eltern sogar darüber beschwert, dass die Kinder zu viel lernen mussten.
Wer zu Hause keinen Laptop hat, ist beim Fernunterricht klar im Nachteil. Hat sich die soziale Schere – ohnehin ein Schwachpunkt der deutschen Bildungspolitik – wegen und durch Corona weiter geöffnet?
Die soziale Schere ist darauf zurückzuführen, dass die Schule im Vergleich zum Elternhaus nicht stark genug ist und oft nicht kompensieren kann, dass einzelne Eltern ihren Kindern zu Hause zu wenig Rückenwind geben. Der Fernunterricht setzt notgedrungen noch viel stärker als das normale Schulsystem auf die Unterstützung der Elternhäuser. Es braucht ein Kinder- oder Jugendzimmer, technisches Equipment.
Es braucht Vater und Mutter, die sich kümmern und mal einen Rat geben. Eltern müssen nicht die Elemententafel des Chemieunterrichts auswendig können, sollten aber schon die Haltung zum Lernen bei den Schülern fördern. Schon im Normalbetrieb sind bei denen, die ein solches Elternhaus nicht haben, Leistungsrückstände zu erkennen. Die sind durch den Fernunterricht noch größer geworden.
Um Defizite auszugleichen, sollen die Schulen „Lernferien“ in den drei Wochen vor dem Schuljahresstart anbieten. Gönnen Sie Schülern nicht die ganzen Sommerferien?
Ich gönne jedem, dass er sich ordentlich erholt. Ich habe mal gelesen, dass dafür drei Wochen Urlaub am besten sind. Sechs Wochen Sommerferien sind jedoch eine sehr lange Zeit. Da kann man sich gut erholen und trotzdem eine oder zwei Wochen zweieinhalb Stunden am Tag lernen. Daran geht niemand zugrunde. Aber es können Kinder scheitern, wenn sie später keine ordentlichen Schulabschlüsse schaffen und mit dem Lesen und Schreiben nicht klarkommen. Deswegen sind die Lernferien ein kluges und richtiges Angebot.
Wie viele Schulen nehmen daran teil, wie viele Schüler werden Sie erreichen?
Wir wollen, dass 20 Prozent der Schüler angesprochen werden und wenigstens zehn Prozent mitmachen. Wir fokussieren uns im ersten Schritt auf Schulen in sozial benachteiligten Gebieten. Von diesen rund 110 staatlichen Schulen haben nach neuesten Zahlen schon fast 90 Schulen gesagt, dass sie mitmachen – eine außerordentlich hohe Beteiligung. Von den anderen Schulen haben wir zurzeit noch keine belastbaren Zahlen.
Lehrer kritisieren, dass die Schüler dabei nach ihren Defiziten aussortiert werden.
Ich halte das für Blödsinn. Wir wollen das Scheitern und die Aussortierung in der Schule doch gerade verhindern, indem wir genau die Schüler fördern, die Lernrückstände haben. Das muss doch so sein. Wenn wir das nicht tun, werden diese Schüler scheitern.
Ein anderer Kritikpunkt ist, dass die Lerngruppen bunt zusammengewürfelt werden und von Honorarkräften, die die Schüler nicht kennen, unterrichtet werden sollen.
Das ist genauso Blödsinn. Die Schulen bestimmen selbst, wer die Kurse leitet. Sie schlagen dazu in erster Linie Kollegen vor, die schon jetzt in der jeweiligen Schule arbeiten und etwa den Nachhilfeunterricht an den Schulen geben. Sie kennen die Schüler also durchaus.
Coronavirus: So können Sie sich vor Ansteckung schützen
- Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Hände waschen
- Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
- Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
- Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten
Große Proteste gab es auch gegen die Durchführung des Abiturs. Jetzt sind die Prüfungen sogar besser ausgefallen als in den letzten 25 Jahren. Gab es einen Corona-Bonus?
Es ist schwierig, darüber zu spekulieren, warum die Leistungen insgesamt besser ausgefallen sind. Vermutlich ist ein Grund, dass sich die Lehrerinnen und Lehrer besonders viel Mühe gegeben haben, weil sie in Sorge waren, dass ihre Schützlinge durchs Abitur fallen könnten. Ich will auch nicht ganz ausschließen, dass in der mündlichen Prüfung bei einem Schüler, der auf der Kippe stand, etwas stärker für den „Angeklagten“ entschieden wurde.
Aber auch die Schülerinnen und Schüler waren in einer besonderen Lage. Der Fernunterricht war sicher nicht leicht, aber umgekehrt gab es weniger Ablenkungsmöglichkeiten. Man konnte weder einkaufen noch sich mit Freunden treffen oder Partys feiern. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es kein leichteres Abitur war. Es waren dieselben Aufgaben wie in früheren Jahren. Dass das ordentlich ausgegangen ist, macht schon Mut.
Welche Ziele haben Sie persönlich für diese Legislaturperiode?
Schöne Schulen bauen möchte ich in jedem Fall. Ich möchte, dass unsere Schüler besser Deutsch und Mathe können und dass wir die Chancen, die im Ganztag schlummern, noch stärker erschließen – Chancen für das soziale Lernen, aber auch Chancen für das fachliche Lernen. Und natürlich werden wir uns weiterhin stark auf die Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Stadtteilen konzentrieren.