Hamburg. Der Politiker wird am Mittwoch Hamburgs neuer Verkehrssenator. Das Amt ist dem Grünen auf den Leib geschneidert, die Erwartung hoch.

Schlafen gehen? Jetzt? Nein, Anjes Tjarks will jetzt Rad fahren. Dafür ist er schließlich hier, in Kopenhagen, dem Mekka für Radfahrer. Also hat er nach der Zugfahrt aus Hamburg, stundenlangen Gesprächen mit dem ehemaligen Verkehrsplaner der Stadt und einem Abendessen natürlich noch nicht genug, selbst als passionierter Frühaufsteher und Frühzubettgeher. Während sich die meisten Mitreisenden gegen 22 Uhr Richtung Hotel aufmachen, will der Fraktionschef der Hamburger Grünen noch Eindrücke sammeln, vom Sattel aus.

Zum Beispiel den, dass die Innenstadt der dänischen Metropole auch an einem kühlen Herbstabend deutlich belebter ist als Hamburgs City, dass jede Menge Menschen unterwegs sind, aber praktisch keine Autos. Dass es sich auf den gepflegten, leicht erhöhten und baulich getrennten Radwegen viel schöner und sicherer fährt als auf den „Radfahrstreifen“ oder Baumwurzelpisten Marke Hamburg. Und dann ist natürlich noch „The Snake“: eine reine Fußgänger- und Radfahrer-Brücke, die sich, auf Stelzen im Hafen stehend, um Häuser herumschlängelt. Muss man gesehen haben, zur Not kurz vor Mitternacht. Ist schließlich cool illuminiert, das Ding.

Der Mann, will Hamburg verändern

Wer Tjarks tags darauf nach etlichen weiteren Treffen mit Fachleuten fragt, was denn nun davon auf Hamburg übertragbar wäre, hört kein „mal sehen“ oder „muss ich erst mal sacken lassen“. Nein, er klappt seinen Laptop auf, öffnet eine Hamburgkarte und sprudelt drauflos. Hier, an der Außenalster, da könnten Brücken die eine oder andere Bucht überspannen, um Wege zu verkürzen. Oder der Kleine Grasbrook: Die geplante Brücke vom neuen Vorzeigestadtteil zur HafenCity könnte doch auch autofrei sein. Oder, oder … Er weiß auch schon, wo technische oder politische Probleme lauern und dass das mit den geschützten Radwegen in Hamburg schwierig wird – wegen der vielen Straßenbäume.

Drei Fragen:

  • 1. Was ist Ihr wichtigstes persönliches Ziel für die nächsten drei Jahre? Ich möchte trotz meiner beruflichen Verpflichtungen weiterhin ausreichend Zeit für meine Familie haben. Das ist jeden Tag eine neue Herausforderung, aber ich bin der festen Überzeugung, dass gerade Männer in Führungspositionen sich mit diesem Thema aktiv beschäftigen und dies auch vorleben müssen. Meine drei Jungs brauchen mich, und ich brauche sie.
  • 2. Was wollen Sie in den nächsten drei Jahren beruflich erreichen? Ich möchte die Menschen in Hamburg für die Mobilitätswende begeistern und sie auf diese Reise mitnehmen. Wer einmal morgens am Harvestehuder Weg im Berufsverkehr unterwegs war, weiß um die Qualität, das Potenzial und die Schönheit dieser Reise.
  • 3. Was wünschen Sie sich für Hamburg in den nächsten drei Jahren? Dass der starke gesellschaftliche Zusammenhalt, den wir in Hamburg schon bei der Aufnahme von Geflüchteten und jetzt bei der Bewältigung von Corona gezeigt haben, durch die vor uns stehenden Herausforderungen noch stärker wird.

Kommenden Mittwoch wird Anjes Tjarks das neu geschaffene Amt als „Senator für Verkehr und Mobilitätswende“ antreten. Und wer den 39-Jährigen in den vergangenen Jahren beobachtet hat, bekommt eine Ahnung, wie intensiv er sich auf diesen Moment vorbereitet hat.

Dass aus dem selbstbewussten und redegewandten Hamburger, aufgewachsen in Jenfeld als Sohn eines Lehrer-Ehepaars und mittlerweile in Altona zu Hause, mal was werden würde, deutete sich relativ schnell an. Seit Ende der 90er bei den Grünen, wurde Tjarks bereits 2008 mit 27 Jahren stellvertretender Landesvorsitzender – neben einer gewissen Katharina Fegebank als fast ebenso junger Parteichefin.

Beide machten seitdem im Gleichschritt Karriere: Sie erlebten das Scheitern von Schwarz-Grün hautnah mit, zogen 2011 gemeinsam erstmals in die Bürgerschaft ein, arbeiteten sich in der Opposition an „König Olaf“ ab und waren ziemlich beeindruckt, als sie dem beinharten Strategen Scholz 2015 dann in den Koalitionsverhandlungen gegenübersaßen – nach denen Fegebank zur Zweiten Bürgermeisterin aufstieg und Tjarks zum Fraktionschef.

Anjes Tjarks und Andreas Dressel bilden das "A-Team"

Als solcher galt er, dem Amt entsprechend, lange als Generalist. Einer, der auf allen Politikfeldern trittsicher ist und überall mitreden darf, der den eigenen Laden zusammen- und die Koalition am Laufen hält. Gemeinsam mit dem damaligen SPD-Fraktionschef und heutigen Finanzsenator Andreas Dressel wurde er als „A-Team“ (Anjes & Andreas) bekannt: Wo immer ein Konflikt aufloderte, waren die beiden zur Stelle und löschten den Brand, bevor er dem Senat zu nahe kam. In dieser Zeit erwarb sich der Grüne auch große Anerkennung auf roter Seite als kluger und verlässlicher Partner, angenehm und locker im Umgang dazu. Mit Dressel verbindet ihn seitdem eine Freundschaft.

Als Fachpolitiker war Tjarks bis dahin aber kaum in Erscheinung getreten. Das änderte sich jedoch gegen Mitte der Legislatur. Die Verkehrswende und das vor allem von den Grünen propagierte Ziel, Hamburg zur „Fahrradstadt“ zu machen, kamen schleppender voran als erhofft. Und während die Umfragewerte der Partei stetig stiegen, stellten sich führende Grüne die Frage: Was brauchen wir eigentlich, um bei wachsendem Gewicht unsere Politik auch im Verkehrsbereich umsetzen zu können? Nicht nur für Tjarks schälte sich immer klarer eine Antwort heraus: die Verkehrsbehörde.

Zwar hielt er sich öffentlich mit Kritik am Koalitionspartner stets zurück. Doch wenn mal die Frage aufkam, warum Rot-Grün denn wieder nur 30 bis 40 Kilometer Radweg im Jahr saniert oder neu geschaffen habe, wo doch 50 Kilometer das Ziel waren, ließ er schon durchblicken, wo er das Problem sehe. Ob ein Ziel erreicht werde, hänge halt auch davon ab, mit wie viel Verve die zuständige Behörde sich engagiere – im ungleich teureren Straßenbau sei das Soll ja sogar übererfüllt worden.

Seine Stärke im Umgang mit Menschen wird er brauchen

Die Krux daran: Die Zuständigkeit für Verkehr lag bislang in der Wirtschaftsbehörde, die die Grünen daher auch gern als Ganzes übernommen hätten. Doch die Signale aus der SPD waren eindeutig: Als stärkste Kraft werde man nie und nimmer die Hoheit über die Wirtschaftspolitik abgeben. Also blieb aus Sicht der Grünen nur die Herauslösung des Bereichs Verkehr in eine eigene Behörde.

Auch inhaltlich hatte sich Tjarks, eigentlich promovierter Lehrer für Englisch und Politik, immer stärker auf die Verkehrspolitik verlegt. Mal präsentierte er eine Studie der Grünen zum autonomen Fahren, mal erstellte er ein Konzept für eine „autoarme“ Innenstadt (und war, wie viele Grüne, sehr überrascht, dass es keinen Aufschrei gab in der Stadt, sondern viel Zustimmung) oder sorgte dafür, dass der Alte Elbtunnel für den Autoverkehr gesperrt wurde – eine Maßnahme, die die Nutzung durch Fußgänger und Radler explodieren ließ.

Auf die naheliegende Frage, ob er Senator werden wolle, war Tjarks lange mit dem Hinweis ausgewichen, wie gern er Fraktionschef sei und dass das doch der viel einflussreichere Posten sei (was stimmt). Doch andererseits war er auch sehr gern Lehrer und wurde dann doch Politiker.

Seine Stärke, auf Menschen zuzugehen, sie mitzunehmen und zu überzeugen, ihnen aber auch zuzuhören und gegebenenfalls einzulenken und Kompromisse zu schließen, wird der Vater von drei Jungen künftig mehr denn je brauchen – aus zwei Gründen. Da ist zum einen die enorme Erwartungshaltung bei den Grünen und ihren Anhängern, dass es bei der Verkehrswende deutlich schneller vorangeht als bisher.

Hamburgs Innenstadt soll autoärmer werden

Glaubt man den Worten des Bürgermeisters, gibt es diese Erwartung auch im Lager der SPD. Die neue Verkehrsbehörde werde „eine sehr starke Behörde“ sein, betonte Peter Tschentscher gleich mehrfach bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages. Man habe „alles, was für diesen Bereich Verkehr und Mobilitätswende erforderlich ist“, aus der Wirtschaftsbehörde herausgeschnitten und noch um weitere Zuständigkeiten ergänzt. Das durfte als Botschaft an die Grünen verstanden werden: Ihr habt, was Ihr wolltet, jetzt macht auch was draus!

Dieses Drucks ist sich Tjarks ebenso bewusst wie seiner mutmaßlichen Rolle als Reizfigur für eingefleischte Autofahrer. In der Tat können die sich auf einige Veränderungen einstellen. Denn bei aller Bereitschaft zum Kompromiss sollte man Tjarks’ Willen, zu „liefern“, nicht unterschätzen. Nicht auszuschließen, dass schon bald in der City hier und da mal eine Autospur testweise in einen Radweg umgewandelt wird.

„Wir werden diese Innenstadt verändern, sodass Sie in fünf Jahren eine ganz andere Innenstadt finden, mit viel mehr Lebensqualität, viel mehr Grün und viel weniger Autoverkehr“, hatte Tjarks erst Anfang des Jahres in der Bürgerschaft angekündigt. Dass er ein Kernproblem darin sieht, dass zu viel Verkehr auf zu wenig Raum stattfindet und daher platzsparende Mobilitätsformen wie Radfahren und ÖPNV gefördert werden müssen – zumal das auch dem Klima hilft –, bekräftigte der Senator in spe am Dienstag erneut.

Indes: Tjarks ist zwar leidenschaftliche Radfahrer und besitzt selbst kein Auto. Aber eine fundamentale Anti-Auto-Politik ist unter ihm nicht zu erwarten, dafür ist er viel zu sehr Realo. Wenn im rot-grünen Koalitionsvertrag steht, dass die Wirtschaft auf eine „funktionsfähige Verkehrsinfrastruktur“ angewiesen ist, wird er darauf ebenso hinwirken wie auf das Ziel: „Hamburg wird Fahrradstadt.“

Daher gilt: Nein, Hamburg wird in fünf Jahren nicht wie Kopenhagen aussehen – dafür sind die Städte auch zu wenig vergleichbar. Aber wer wissen möchte, in welche Richtung sich die Verkehrspolitik unter Senator Anjes Tjarks entwickeln wird, sollte ruhig mal eine Reise in die dänische Hauptstadt unternehmen. Lohnt sich in jedem Fall.