Hamburg. Elf Thesen zum Hamburger Bürgerschaftswahlkampf 2020 über verlorene Inhalte, verstörende Vorwürfe und verrückte Ideen.

Thüringen ist überall

Der Wahlkampf hatte noch gar nicht so richtig Fahrt aufgenommen, da erschütterte die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen die Republik: Die Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten durch AfD und CDU hat Schockwellen bis Hamburg gesendet und die politische Stimmung im Land bewegt: Union und FDP büßten ein, die linken Parteien legten zu. Das Fiasko von Erfurt könnte gerade den Elbliberalen noch richtig weh tun - sie lagen aufgrund der Polarisierung zwischen SPD und Grünen ohnehin schon nahe der Fünf-Prozent-Hürde, danach dann erstmals drunter.

Da half es nicht, dass alle relevanten FDP-Politiker in Hamburg sich schneller und konsequenter von den Parteifreunden in Thüringen abgrenzten – die Wutwelle traf sie radikal. Im Netz zwangsfusionierten manche Linke die FDP plötzlich mit der AfD zur AFDP, eine Vielzahl der Plakate der Liberalen in Hamburg wurden beschmiert, zerstört, gestohlen. Auch thematisch brachte es vor allem die FDP in die Defensive. Auf jedem Podium, an jedem Stand musste sich die Partei erst einmal distanzieren, bevor sie die eigenen Themen ansprechen durfte. Liberale Ideen zu Digitalisierung, Steuer- und Bildungspolitik hatte es da schwer.

Ottensen ist nicht überall

Blickt man auf den Wahlkampf, scheint die Hansestadt kaum größer als ein Dorf zu sein: Da wird viel über die autofreie oder autoarme Innenstadt oder die Ottenser Hauptstraße gestritten, die Gestaltung des Jungfernstiegs oder des Elbufers. Vielleicht ist noch der Hafen dabei – aber der Rest? Dass die Stadt von Altengamme bis Rissen, von Sinstorf bis Wohldorf-Ohlstedt reicht, kam in den großen Debatten eher kurz. Dabei sieht schon die Welt in Volksdorf ganz anders aus als in Eimsbüttel. Im Norden der Stadt etwa gestand selbst die Grünen-Kandidatin frank und frei, ihr Haushalt benötige zwei Autos – und kaum einer wunderte sich. Die gleiche öffentliche Aussage einer Parteifreundin im Generalsviertel oder in Ottensen käme einem politischen Selbstmord gleich.

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Die Kraft der guten Ideen

Die Wahl in Thüringen war nicht nur keine gute Idee, sie vernebelte viele gute Ideen. Anders als in früheren Wahlkämpfen haben sich die Parteien viele Gedanken über die Zukunft der Stadt gemacht, Visionen entwickelt und sogar zunächst verrückt anmutende Ideen vorgestellt. Besonders mutig war die CDU: Natürlich klingt eine Untertunnelung der Willy-Brandt-Straße so teuer wie tollkühn – aber das war beim Deckel über der A7 nicht anders. Und der Plan für eine Straßenbahn für Hamburgs Westen ist nicht nur ein symbolischer Politikwechsel, sondern eine bestechende Idee. Auch das Haus der digitalen Welt, das die SPD nach finnischen Vorbild in die Stadt pflanzen will, klingt faszinierend – so wie die grüne Idee eines Elbparks auf St. Pauli.

Schon bald dürfte die ein oder andere Idee umgetopft und von anderen Parteien übernommen werden. Das kürzlich mit großem Aplomp präsentierte Innenstadtkonzept der SPD etwa kupferte so manchen Gedanken der Grünen ab. Aber so soll Wahlkampf sein – ein Marktplatz der guten Ideen.

Von Duell zu Duell

Der Hamburger Bürgerschaftswahlkampf wartete mit einer Besonderheit auf: Erstmals seit dem Ende der Großen Koalition 1969 in Bonn begegneten sich zwei Spitzenpolitiker aus einem Kabinett plötzlich als Widersacher auf Augenhöhe: Bürgermeister Peter Tschentscher ging ins Duell mit seiner Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank. Das gab den rot-grünen Duellen eine ganz besondere Note: Plötzlich mussten zwei Politiker, die sich kennen und schätzen, gegeneinander antreten und den Senatskollegen treffen, ohne ihn zu versenken. Bei allem Wettstreit war beiden daran gelegen, eine Zusammenarbeit auch über den 23. Februar zu ermöglichen.

So überließen Tschentscher und Fegebank die Gemeinheiten den Parteifreunden und traten sich eher freundlich gegenüber: Florett statt Keule, Sticheleien statt Stiche. Über die Duelle fand Fegebank immer besser in die Rolle der Herausforderin: Der zunächst überlegene Bürgermeister büßte am Ende ein. Ging Fegebank im Duell der „Zeit“ nach Einschätzungen von Beobachtern als klare und beim „Abendblatt“-Duell als knappe Verliererin vom Platz, entschied sie die letzte Debatte am Dienstag im NDR für sich.

Schon in der Maske des Senders fiel die Vorentscheidung, dann präsentierte sich die Herausforderin sympathisch und schlagfertig. Aber dieser Sieg dürfte nicht reichen, die Weichen noch einmal neu zu stellen.

Wer ist hier verdrossen?

Politikverdrossenheit ist anderswo: Wer sich in den vergangenen Wochen zu Podiumsdiskussionen, Elefantenrunden oder Streitgesprächen wagte, wurde belohnt: Die Veranstaltungen waren gut besucht, fast allen Kandidaten gelang es zu punkten. Wer sich wie mache Politiker in den vergangenen Wochen gleich mehrere Abende in Folge mit Themen wie Sozialpolitik und Kleingärten, Mietendeckel und Mitbestimmung um die Ohren geschlagen hat, verdient Respekt.

Nur zur Erinnerung: Die Bürgerschaft ist ein Teilzeitparlament, das Mandat ein arbeitsintensives Zubrot, keine Versorgungsmaschine. Da erfreut der Enthusiasmus und die Kompetenz – parteiübergreifend. Übrigens: Nicht immer sind Podiumsdiskussionen vergnügungssteuerpflichtig, etwa dann, wenn Wutbürger zum ganz großen Rundumschlag ausholen.

Cum-Ex: Alles hat seine Zeit

Zwei Worte brachten noch einmal richtig Zunder in den Wahlkampf: Cum-Ex, der empörende Steuerraub von Banken, Großinvestoren mit tatkräftiger Mithilfe von Wirtschaftskanzleien. Milliarden wurden in ganz Europa dem Fiskus genommen und auf Privatkonten umgelenkt. Doch welche Rolle spielten die Hamburger Politik, Ex-Bürgermeister Olaf Scholz und sein Nachfolger Peter Tschentscher im Cum-Ex-Skandal? Zehn Tage vor der Wahl brachten die „Zeit“ und „NDR Panorama“ in umfangreichen Beiträgen das Thema wieder aufs Tapet.

Perfektes Timing, spektakuläre Zeilen: „Genossen und Banker. Das 47-Millionen-Geschenk“ hieß es bei „Panorama“ beziehungsweise „Das Millionengeschenk“ bei der Zeit zum Verzicht auf eine Steuerrückforderung gegen Warburg. Otmar Kury, der Anwalt von Max Warburg, äußerte den Verdacht, die Berichterstattung könne die Hamburger Bürgerschaftswahl in „manipulierender, unzulässiger Weise beeinflussen“. Vielleicht wird andersherum ein Schuh draus: Natürlich darf man zehn Tage vor der Wahl Skandale öffentlich machen. Aber eine möglicherweise wahlbeeinflussende Geschichte muss wasserdicht sein.

Wo waren die Bundespolitiker?

Wo war eigentlich Angela Merkel? Und wo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans? Um es kurz zu machen: Nicht in Hamburg. Die CDU hatte ursprünglich zwei Wahlkampfveranstaltungen mit der langjährigen CDU-Vorsitzenden geplant. Aber die Weltlage, so hieß es offiziell, ließen Auftritte im Bürgerschaftswahlkampf nicht zu. Friedrich Merz, Armin Laschet und Jens Spahn schauten in Hamburg vorbei. Demonstrativ verzichtete die Hamburger SPD auf ihr neues Führungsduo. Blickt man auf die Umfragewerte, hat ihr das nicht geschadet.

In dieser Woche wurden Christian Lindner, Annalena Baerbock und Robert Habeck hingegen zu Wahlhamburgern - der FDP-Chef musste retten, was schwer zu retten war, die Grünen dachten schon an 2021: Bei der einzigen Landtagswahl geht es um eine gute Ausgangslage für einen grünen Kanzlerkandidaten. Da trifft es sich doch gut, dass auch „Fridays for Future“ ihre bundesweite Großdemonstration keine 48 Stunden vor der Bürgerschaftswahl in Hamburg abhält – mit Unterstützung von Greta Thunberg.

Eine Stadt voller Talente

Die Gesellschaft mag polarisiert sein, sie ist durch die Wirren der vergangenen Jahre aber auch politisiert worden. Auf vielen Listen drängen junge Politikerinnen und Politiker in die Bürgerschaft – und könnten das Parlament beleben. Gerade auf der linken Seite des politischen Spektrums tummeln sich eloquente und unideologische Vertreter. Und mit Volt entwickelt sich eine neue politische Kraft, die sich zu einer ernstzunehmenden politischen Bewegung entwickeln könnte. Der 2020er-Jahrgang könnte ein vielversprechender Jahrgang der Hamburger Politik werden.

Das seltsame Wahlrecht

Nicht jeder junge Kandidat ist automatisch ein Talent. Tom Radtke hätte bis zu seinem unseligen Twitter-Tweet als Zählkandidat gelten können, der auf Listenplatz 20 der Linken durch Alter (18) und Profession (Schüler) ein paar junge Stimmen abfischen sollte. Dann verglich er die Klimakrise mit dem Holocaust, seine Partei ließ ihn fallen – und seitdem überzog er seine Noch-Parteifreunde mit Unterstellungen und Verleumdungen unter dem Titel #RadtkeLeaks.

Als er auf einer Linken-Demonstration erschien, wurde seine Parteifreundin Christiane Scheider handgreiflich: Er schmähte sie als „antideutsche Antifa-Oma“ – und bekam plötzlich viel Beifall von rechts; sein Anwalt ist übrigens der frühere Pressesprecher der Werte-Union Ralf Höcker. Im Netz erregte Radtke viel Aufsehen und hat bei Twitter inzwischen doppelt so viele Follower wie seine Partei. Aufgrund der Personenstimmen entsteht die paradoxe Situation, dass jede Radtke-Stimme die Linkspartei stärker macht.

Sollte er aber in die Bürgerschaft einziehen, dürfte sein Sitz für die Linken schnell weg sein. Seine „Umfrage“ unter den Followern brachte schon eine „Mehrheit“ für „Mit Mandat Parteiwechsel“. So wird das Ergebnis der Linken mit jeder Personenstimme für Radtke verzerrt. Der Fall zeigt eine Schwäche des Hamburger Wahlrechts auf.

Die AfD – unsichtbar und doch allgegenwärtig

In allen Wahlumfragen ist die Alternative für Deutschland auch in der kommenden Legislaturperiode in der Bürgerschaft vertreten; im Wahlkampf hingegen blieb sie fast unsichtbar. Das hat zwei Gründe – zum einen übte die Antifa massiven Druck aus, zum anderen zog sich die Partei zurück. Es lief ja auch so. Plakate der Partei wurden noch schneller zerstört als die ihrer Gegner, eine Örtlichkeit für Parteiveranstaltungen zu finden, war nahezu unmöglich.

Kaum ein Wirt wollte die AfD beherbergen, potenzielle Vermieter wurden oftmals unter Druck gesetzt. Sogar ihre Abschlussveranstaltung musste die AfD nach Henstedt-Ulzburg verlegen. „Viele reden vom Klimanotstand, dabei befindet sich Hamburg längst im Demokratienotstand“, klagte Dirk Nockemann. Auf den wenigen Podien, zu denen Parteivertreter eingeladen wurden, punkteten sie oft mit der Klage über „Dämonisierung“ und Ausgrenzung.

Ihre Gegner indes fanden reichlich Argumente auf AfD-Seiten in den sozialen Netzwerken: Da verwandelte sich etwa der soziale Wohnungsbau in „Designer-Neubauten vom Feinsten für meist illegal Eingereiste“.

Die Wahlprognosen

Glaubt man den einschlägigen Meinungsforschungsinstituten, ist der Drops schon fast gelutscht. In drei der letzten vier Umfragen hat sich der Raum, der zwischen den Grünen und der SPD liegt, von einer Lücke zur Schlucht erweitert: Wahlweise taxierten Insa, Infratest-Dimap und Forschungsgruppe Wahlen den Abstand zwischen den beiden Regierungsparteien auf zwölf bis 15 Prozent.

Es gab erste politische Beobachter, die auf eine absolute Mehrheit der SPD setzen: Tatsächlich könnten, sollten FDP und AfD an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, rund 44 Prozent zur absoluten Mehrheit der Sitz reichen. Wahrscheinlicher aber ist, dass sich die Kluft auf den letzten Metern wieder etwas schließt: Denn jeder Wähler hat fünf Stimmen – und wer weiß, wie viele Hamburger unter dem Eindruck der heutigen Fridays-for-Future-Demo den Slogan der Protestierer ernst nehmen.

„Hamburg wählt Klima“ heißt es da. Sollte nur jeder fünfte Wähler nur eine seiner fünf Stimmen so bewegen, wären das am Ende ganze vier Prozentpunkte.