Hamburg. Freunde, Geld und Zeit – wer erstmals in die Bürgerschaft einziehen möchte, muss einiges opfern. Was die Kandidaten bewegen wollen.
Am 23. Februar wird in Hamburg gewählt. Sechs Kandidaten wollen dann erstmals für ihre Parteien in die Bürgerschaft einziehen. Die Neulinge bei den Linken, den Grünen, SPD, CDU, FDP und AfD stehen vor unterschiedlichen Herausforderungen. Wer sie sind und wie ihre Chancen stehen, gewählt zu werden.
Die Linke: David Stoop setzt auf bezahlbares Wohnen
Ausgerechnet jetzt macht der Miethai schlapp. Wieder und wieder startet David Stoop (36) den Generator, um den roten Plastik-Raubfisch aufzupusten. Vergebens, der Motor streikt stets nach wenigen Sekunden.
Also verteilen Stoop und Stephanie Rose (31) eben ohne Miethai-Unterstützung Infoblätter, Wahlkampfprogramme und Bierdeckel mit der Aufschrift „Mietendeckel drauf“ auf dem Berta-Kröger-Platz am S-Bahnhof Wilhelmsburg. Das Baby von Stephanie Rose schlummert selig im Kinderwagen, gut geschützt gegen den nasskalten Wind.
Stoop investiert keinen Cent in Wahlwerbung
Als Zweiter der Landesliste der Linken hat Stoop sein Mandat in der neuen Bürgerschaft fast sicher, Stephanie Rose muss dagegen als Siebtplatzierte der Landesliste sowie Zweite der Linken-Liste des Wahlkreises Wilhelmburg/Billstedt/Finkenwerder auf sehr viele Kreuze hinter ihrem Namen hoffen.
Doch im Gegensatz zu den meisten anderen Parteien sind ihre Fotos vor allem in den Flyern zu sehen, auf den Plakaten dominieren Slogans wie „Soziale Gerechtigkeit! Einfach machen“.
„Wir setzen auf Inhalte“, sagt Stoop, noch Sprecher des Landesverbands. Diesen Posten wird er abgeben müssen, wenn er in die Bürgerschaft wechselt – seine Partei schreibt eine Trennung zwischen Amt und Mandat vor. Und noch etwas ist anders als bei der Konkurrenz. Stoop investiert keinen Cent in seine Wahlwerbung, er darf es schlicht nicht: Jede Spende an die Linke kommt in einen Topf, die Partei beschließt, wofür sie verwendet wird. Stoop findet das fair: „Alles andere würde zu einer Ungleichheit führen. Denn dann könnte ein Kandidat nur dank besserer finanzieller Mitteln seine Chancen erhöhen.“
30 Stunden seiner Freizeit für Ehrenamt
Stoop, aufgewachsen in Bielstein in Nordrhein-Westfalen, kämpft seit 2007 für die Linke, SPD oder Grüne waren für ihn schon durch die Hartz IV-Reformen, die Stoop strikt ablehnt, nie eine Option. Er studierte Sozialwissenschaften, Englisch, Deutsch und Pädagogik auf Lehramt, wechselte dann als Referent zur DGB-Jugend, arbeitet nun als Betriebsrat für die gewerkschaftsnahe Deutsche Angestellten Akademie (DAA).
Wie schwierig der Marsch durch die Institutionen gerade bei den Linken ist, erlebte Stoop bei der Kandidatenkür seiner Partei, als er nur 52 von 100 Stimmen erhielt. Dabei opfert Stoop für sein ehrenamtliches Engagement als Landessprecher Woche für Woche 30 Stunden seiner Freizeit. Echter Rückhalt durch die Partei sieht anders aus. Doch das ficht ihn nicht an: „Wir sind eine diskussionsfreudige Partei. Und dennoch treten wir in Sachfragen geschlossen auf.“
Radtke spiele im Wahlkampf keine Rolle
Und in der Tat haben die Linken mit der Forderung nach einem Mietendeckel einen Wahlkampfschlager entwickelt. „Dafür bekommen wir an den Infoständen sehr viel Zustimmung“, sagt Stoop. Und das Störfeuer durch den verstörenden Post des selbsternannten „radikalen Klimaschützers“ Tom Radtke (18), der ebenfalls für die Linke bei der Bürgerschaft kandidiert?
Radtke hatte am Holocaust-Gedenktag den Völkermord an den Juden mit dem Klimawandel verglichen. „Wir haben diese unsägliche Relativierung des Holocaust scharf verurteilt“, sagt Stoop. Es gebe keine Zusammenarbeit mehr mit Radtke. Im Wahlkampf würde dieses Thema keine Rolle mehr spielen.
Für den Endspurt hat Stoop nun unbezahlten Urlaub genommen. Auf dem Programm stehen zahlreiche Veranstaltungen. Die Anhänger der Linken schätzen Diskussionen über Themen wie bezahlbares Wohnen, Mindestlöhne und Abrüstung, sagt Stolpe. Zum Abschluss werden die Partei-Prominenten Gregor Gysi und Katja Kipping am 19. Februar im Kulturzentrum Fabrik in Altona reden.
Allerdings sagt Stoop auch, dass zu den Veranstaltungen in aller Regel nur die kommen, die ohnehin ihre Kreuze bei den Linken machen. Deshalb organisiert er weiter Info-Stände und macht Hausbesuche, gerade in Stadtteilen wie Wilhelmsburg oder Billstedt, wo viele wohnen, die sich benachteiligt fühlen – und dennoch nicht wählen. Diese Nichtwähler zu mobilisieren, das ist aus Sicht von Stoop ein Schlüssel, um das Ergebnis der Wahl von 2015 (8,5 Prozent) weiter zu verbessern.
Die Grünen: Rosa Domm und Ivy Müller – die Aufsteiger
Die freundliche Italienerin im fünften Stock spricht leider kein Wort Deutsch. Englisch? Auch nicht. Aber die Flyer nimmt sie gern. „Grazie“. Auch der junge Mann unter ihr, der auf Krücken an die Tür kommt, wehrt sich nicht gegen die gedruckten Infos, aber Gesprächsbedarf? „Nee.“ Die Dame mittleren Alters im Erdgeschoss outet sich dagegen sofort lachend: „Ich bin ‘ne Linke.“ Aber Flyer der Konkurrenz? Warum nicht. „Ihr seid ja auch in Ordnung“, sagt sie und wünscht „viel Glück“.
„Ihr“, das sind Rosa Domm und Ivy May Müller, Bürgerschaftskandidatinnen der Grünen, beide mit recht guten Aussichten. Heute steht „grünes Klingeln“ auf der Tagesordnung, sprich: Haustürwahlkampf.
Treffpunkt ist an der Friedenskirche in Eilbek, rund 15 Parteimitglieder schwärmen von dort in kleinen Teams aus, Domm und Müller ziehen durch die Papenstraße.
Domm und Müller ziehen hartnäckig von Tür zu Tür
Das erste Haus lassen sie rechts liegen – wenn um 17.15 Uhr in keiner Wohnung Licht brennt, dürfte niemand zu Hause sein. Haus zwei ist teilweise erleuchtet, Müller klingelt ganz oben. Warum dort? „Die im Erdgeschoss sind oft von den Paketboten genervt, die oben machen eher auf.“ Aha, die beiden machen das nicht zum ersten Mal. Dennoch dauert es oft, bis sich ein Bewohner erbarmt und den Summer betätigt.
In Haus drei kommt gerade eine junge Frau heim, dick bepackt mit Einkäufen. Ob man wohl mit reinhuschen dürfte, um etwas Wahlinfos zu verteilen? Klar, kein Problem. Aus einer Wohnungstür kommt ein kleiner schwarzer Pudel geschossen, freundlich wedelnd. Sein Frauchen ist weniger aufgeschlossen: Infos? „Nein danke!“
Anders der Mann mit der getönten Brille, Typ Heinz Strunk, dem eine mächtige Qualmwolke in den Flur folgt. Die charmante Begrüßung „Moin, das ist Ivy, und ich bin Rosa, wir kommen von den Grünen“ macht ihn etwas baff, aber die Flyer nimmt er gern. Als er schon wieder in der Wohnung verschwunden ist, hört man ihn noch zu jemanden sagen, dass da „ein ganz junges Mädchen“ vor der Tür gestanden habe.
Müller ist „Klimaaktivistin, Queerfeministin und Antifaschistin“,
Stimmt ja. Rosa Domm ist 21, erst 2017 zum Studieren aus Bielefeld nach Hamburg gekommen, den Grünen beigetreten und kurz darauf schon Vorsitzende der Grünen Jugend geworden. Dort lernte sie Ivy Müller kennen. Die heute 23-Jährige war noch 2017 von einer Bremer Zeitung als „jüngstes Mitglied im Sottrumer Ortsverband von Bündnis 90/Die Grünen“ vorgestellt worden, dann aber auch zum Studium nach Hamburg gezogen und ebenfalls schnell zur Vorsitzenden der Grünen Jugend aufgestiegen. 2019 nominierte der Parteinachwuchs seine Doppelspitze als „Spitzenkandidatinnen für die Bürgerschaftswahl“ – zwar nur eine Forderung, aber eine, die nicht ohne Wirkung blieb.
Müller, deren Steckenpferd die Bildungspolitik ist, schaffte es auf den aussichtsreichen Platz sieben der Landesliste, und Domm setzte sich in einer Kampfabstimmung um Platz eins der Grünen im Wahlkreis Wandsbek durch. Die 21-Jährige bezeichnet sich selbst als „Klimaaktivistin, Queerfeministin und Antifaschistin“, aber ihr Schwerpunkt ist eigentlich die Verkehrspolitik.
Im Herbst hat sie Bürgerschafts-Fraktionschef Anjes Tjarks auf einer Info-Reise ins Rad-Mekka Kopenhagen begleitet. Dass die Dänen den deutschen Gästen eindringlich geschützte Radwege empfahlen, überraschte Domm nicht: In ihrem persönlichen Flyer steht das als Ziel ganz oben. „Die Grüne Jugend ist ja immer etwas progressiver“, sagt sie schmunzelnd.
Vor einem Haus steht plötzlich ein junger Mann, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Domm und Müller erkennen ihn dennoch sofort: „Alex!“ Großes Helau. Alexander Mohrenberg ist Chef der Hamburger Jusos und SPD-Kandidat. Mit ihm wetzen die jungen Grünen derzeit alle paar Tage auf einem Podium verbal die Messer.
Sofort ist man beim AKK-Rücktritt und bei Thüringen, eine weitere gemeinsame Demo ist in Planung. Was er hier mache? „Meine Freundin wohnt hier um die Ecke“, sagt Mohrenberg und lacht: „Aber das ist schon der Wahlkreis Hamburg-Mitte. Da werdet ihr nicht klingeln!“ Man sieht sich ja so oder so – spätestens in der Bürgerschaft.
SPD: Arne Platzbecker tourt durch den Wahlkreis Mitte
Kurz vor dem Ziel kann ihn auch eine hartnäckige Bronchitis nicht mehr stoppen. Arne Platzbecker (47) macht weiter, immer weiter. Bis zu zehn Termine absolviert er am Tag, um Mitglied der Bürgerschaft zu werden: Er verteilt Wahlkampf-Flyer, klebt Plakate, klappert Vereine ab, besucht Familien, die ihn zu Kaffee und Kuchen einladen.
Was auch immer am 23. Februar passieren wird: Niemand wird dem Rechtsanwalt vorwerfen können, er habe sich zu wenig engagiert. Er sagt: „Mein Privatleben ist seit Monaten praktisch nicht mehr existent.“ Auf seinen Flyern steht seine Handynummer. Das Signal ist klar: Ich bin euer Kümmerer, ruft mich an.
An diesem Abend im Januar konzentriert sich Platzbecker auf die türkischstämmigen Bürger auf St. Pauli, der Kiez gehört wie Altstadt, HafenCity, Neustadt, St. Georg, Hammerbrook, Borgfeld, Hamm und Horn zu seinem Wahlkreis Mitte. Auf St. Pauli hat mehr als jeder dritte Bürger einen Migrationshintergrund, die Türkei liegt dabei klar vorn.
Für den Kampf um das Mandat kann diese Gruppe zum entscheidenden Faktor werden. Platzbecker hat für diese Mission die idealen Unterstützer verpflichtet: Serpil Midyatli, stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD und Chefin der schleswig-holsteinischen Genossen, sowie Baris Önes von der SPD-Landesliste (Rang 49).
Datenschutzbeauftragter für den FC St. Pauli
Stratege Platzbecker hat den Abend auf St. Pauli minutiös vorbereitet: Kurz-Besuche in türkischen Restaurants und Cafés, dann zur Diskussion bei einem türkischen Kulturverein. Es ist ein Heimspiel für ihn. Platzbecker wohnt mit seinem Mann am Hein-Köllisch-Platz, engagiert sich zudem als Datenschutzbeauftragter für den FC St. Pauli.
Also kennt der Netzwerker genügend türkische Gastronomen, die auch in Zeiten der bundesweiten SPD-Krise stolz auf diese Gäste sind. Würden die drei Genossen an diesem Abend jede Einladung zu einem Getränk einnehmen, sie wären bis zum Morgengrauen unterwegs.
Platzbecker schaut mit seinen Gästen auch in der Raucherkneipe Zur lustigen Mama vorbei, obwohl der Inhaber ihn mangels deutschem Pass gar nicht wählen kann. „Das ist egal, auch er ist ein Multiplikator“, sagt Platzbecker. Also jemand, der seinen Gästen Wahlkampf-Flyer in die Hand drückt und ihnen erklärt, wie der Kandidat für Mieter-Rechte in der Bürgerschaft kämpfen wird.
Platzbecker: Maßgeschneiderte Akzente für jeden Stadtteil
Seit dem Reeperbahn-Festival Mitte September tourt Platzbecker durch seinen Wahlkreis, in dem 131.000 Menschen leben. Einen „mittleren vierstelligen Betrag“ hat er in seinen Wahlkampf gesteckt, vor allem in den Druck von Plakaten und Flyern. Sein Einnahmenausfall in seiner Kanzlei an der Palmaille wiegt ungleich schwerer. Wer mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs Senioren besucht, kann sich nicht zeitgleich um Mandanten kümmern. „Zum Glück tragen meine Partner das mit“, sagt er. Dafür hat er sie ja auch in deren Elternzeit-Phasen unterstützt.
Trotz des komplizierten Hamburger Wahlrechts ist Platzbeckers Rechnung am Ende simpel. Er muss zunächst darauf hoffen, dass die SPD wie 2015 zwei der fünf Direktmandate holt. Da Henriette von Enckefort nicht wieder antritt, würden dann die zweitmeisten Stimmen auf der SPD-Wahlkreisliste reichen.
Hansjörg Schmidt, wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und Nummer eins der Liste, gilt als gesetzt. Für seine Wahl setzt Platzbecker auf maßgeschneiderte Akzente für jeden Stadtteil: nachhaltigen Tourismus auf St. Pauli, mehr Sicherheit für St. Georg und Hammerbrock, mehr Raum für Fußgänger und Radfahrer in der Altstadt, Neustadt und der HafenCity.
Seit 30 Jahren engagiert sich Platzbecker in der SPD. Ein Austritt war nie eine Option, obwohl er mit manchen Entwicklungen hadert. Auch mit dem neuen Führungsduo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ist er nicht wirklich glücklich. „Ständig neue Vorschläge in die Diskussion zu werfen, halte ich nicht für zielführend.“ Seine Lok im Wahlkampf heißt Peter Tschentscher: „Wie der ankommt bei den Leuten, ist sensationell.“ Und auch deshalb mache ihm dieser Einsatz Spaß: „Ich erlebe die Stadt als hochpolitisch.“
CDU: Götz Wiese ist neu und schon Hoffnungsträger
Das Grau dieses Winter-tags geht schon langsam in das Dunkelgrau des Abends über, als es doch noch einen Lichtblick gibt. „Herr Wiese, Herr Wiese“, schallt es von der anderen Straßenseite. „Die Dame möchte mit ihnen sprechen!“ Der Sohn einer Wahlhelferin wedelt aufgeregt mit den Armen und deutet auf eine ältere Dame.
Götz Wiese überquert die Jarrestraße, stellt sich kurz vor – und muss dann eigentlich nur noch zuhören. Der SPD-Filz in Hamburg, die fehlende Steuerreform und dann der Leerstand in ihrer Straße, ihr selbst habe man ja auch schon Geld dafür geboten, dass sie ausziehe. Es hat sich einiges aufgestaut bei der Dame.
Wiese kann nur Stichworte beisteuern. Ja, die Steuerpolitik sei ja auch sein Thema als Mittelständler. Und den TV-Bericht über die habgierigen Vermieter, den hat er natürlich auch gesehen. Schlimm, das alles. Zu einer Diskussion, welche Partei welchen Anteil an diesem Missstand hat und wer was dagegen tut, kommt es gar nicht erst. Vielleicht besser so. „Ich werde Sie wählen“, sagt die Frau und fügt resolut hinzu: „Die SPD muss mal 30 Jahre in die Opposition.“
Wiese ist erst 2017 in die CDU eingetreten
Was für ein Geschenk. Götz Wiese, der CDU-Spitzenkandidat im Wahlkreis Eppendorf-Winterhude, hat heute Geburtstag, sein 54. Statt im Familienkreis „feiert“ er mit vier Parteifreunden, die ihn im Straßenwahlkampf unterstützen. „Spontane Mobilitätstour“ nennt er den Zug um die Häuser.
Flyer, Kugelschreiber und Knoppers haben Wiese und seine Helfer im Angebot. Manche Passanten nehmen alles, manche gar nichts, manche schauen erst genau auf den Flyer und lehnen dann dankend ab. Wenn’s gut läuft, kann Wiese noch sagen: „Ich bin hier der Spitzenkandidat für die CDU.“ Ein Gespräch, in dem er mit seiner offenen und freundlichen Art punkten kann, kommt nur zweimal zustande. Dabei könnte Wiese einiges erzählen.
Dass er keiner dieser altgedienten Parteisoldaten ist, die zur Belohnung für drei Jahrzehnte Plakate kleben in die Bürgerschaft dürfen. Dass er erst Ende 2017 in die CDU eingetreten ist, weil er den Trump-Irrsinn ebenso wie das Führungschaos in der Hamburger Handelskammer und viele andere Entwicklungen als Gefahr für die Demokratie sah und sich sagte: „Engagier dich!“
„Seiteneinsteiger mit Lebenserfahrung und mit frischem Blick“
Dass das aber kein plötzlicher Sinneswandel war, sondern eher eine Fortsetzung seines ehrenamtlichen Engagements – als Mitglied im Kirchengemeinderat, bei den Johannitern oder als Vorstand einer Stiftung. Oder dass er als Jurist in großen Kanzleien und seit 2016 als selbstständiger Rechtsanwalt und Honorarprofessor an der Bucerius Law School viel berufliche Erfahrung gesammelt hat, die er nun politisch einbringen möchte.
Solche „Seiteneinsteiger mit Lebenserfahrung und mit frischem Blick“, wie Wiese sich selbst beschreibt, nehmen sie in Parteien mit Kusshand auf. Und so stieg der Neuling in kurzer Zeit auf. Im Dezember 2018 wurde er Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsunion in Hamburg und im Sommer 2019 bereits Spitzenkandidat der CDU im Wahlkreis Eppendorf-Winterhude – bislang stets ein sicheres Ticket für den Einzug in die Bürgerschaft. Wie und warum er den bisherigen Bürgerschaftsabgeordneten Jens Wolf verdrängt hat, darüber verliert Wiese kaum Worte. „Die Mehrheit hat halt mich gewählt“, sagt er nur.
Keine Zusammenarbeit mit der AfD
Dass die Hamburger CDU bei knapp 15 Prozent dümpelt und dass es keine Wechselstimmung in der Stadt gibt, schreckt ihn nicht ab. „Dass es Luft nach oben gibt, ist für mich eher ein Ansporn. Ich glaube an das Modell Volkspartei. Wir müssen in der Mitte zusammenbleiben und dürfen nicht in Splittergruppen und Partikularinteressen zerfallen.“
Natürlich wird er im Wahlkampf auf Thüringen angesprochen, wo die CDU erstmals gemeinsame Sache mit der AfD gemacht hat. „Es gibt aber keine persönlichen Angriffe“, berichtet Wiese. Wenn er dazu komme, was eher selten sei, stelle er klar, dass er die Ereignisse für einen „groben politischen und historischen Fehler“ halte. Er sei froh, dass die Hamburger CDU-Führung da sofort klare Kante gezeigt habe und betont: „Mit mir wird es in der Bürgerschaft auch keine Zusammenarbeit mit der AfD geben.“
FDP: Wie sich Katarina Blume für ihre Partei engagiert
Als Katarina Blume (56) an diesem Sonnabend im Januar ihre Schuhe vor dem Eingang der Fazl-e-Omar-Moschee in Stellingen abstreift, kann sie nicht wissen, dass zehn Tage später in ihrem Wahlkampf nichts mehr so sein wird, wie es mal war. Dass ihre Plakate mit Sprüchen wie „Die Eva Braun von Altona“ oder „Nazi-Hure“ beschmiert werden. Dass sich Hass auf ihre Partei entlädt wie noch nie.
An diesem Sonnabend ist das politische Beben von Thüringen mit der Wahl ihres Parteifreundes Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten noch fern. Laiq Ahmad Munir, Imam der Fazl-e-Omar-Moschee, hat die Fraktionschefin der FDP der Bezirksversammlung Altona eingeladen. Für Katarina Blume ist dies ungewohntes Terrain. Ihre Partei setzt sich seit Monaten dafür ein, die Verträge des Senats mit den islamischen Verbänden zu kündigen, da deren Mitglieder zu oft radikal-islamistisch Positionen vertreten würden.
Klare Trennung zwischen Staat und Religion
Doch nach wenigen Minuten in der Moschee an der Wieckstraße wird klar: Die Ahmadiyya-Muslim-Jamaat-Gläubigen haben mit Islamisten nichts im Sinn, im Gegenteil: Ihre Gemeinschaft wird verfolgt, weil sie für die klare Trennung von Staat und Religion kämpft und sich uneingeschränkt zu den Werten westlicher Demokratien bekennt.
Katarina Blume, die in den USA studierte und dann Drehbücher ausländischer Autoren für den deutschen Markt akquirierte, hakt dennoch nach, will wissen, wie die Moschee sich finanziert – „ausschließlich über Spenden“ – und in welcher Sprache gepredigt wird: „Nur auf Deutsch.“
Als Katharina Blume nach dem Besuch ihre Schuhe wieder anzieht, sagt sie: „Das war spannend.“ Sie kämpft ohnehin mit ungewöhnlichen Formaten um den Sprung von der Bezirksversammlung in die Bürgerschaft. In ihrer Küche verpackt die Mutter von drei erwachsenen Töchtern mit Parteifreunden Oregano in Tütchen, die sie mit dem Aufdruck „Zutat“ verteilt. Auf ihrer Homepage wirbt sie mit dem an die Pflanzen-Kette angelehnten Slogan „Blume 2020“. Und sie bittet zu Hausabenden nach Groß-Flottbek, um bei Käse und Wein über Politik zu diskutieren.
Mittelstand, Natur, Versöhnung von Ökologie und Ökonomie
Als sich am 5. Februar Kemmerich in Erfurt mit den Stimmen von CDU, AfD und FDP zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen lässt, bereitet Katharina Blume gerade eine Diskussion am Abend mit Landwirten aus der Region vor. Für sie eine der wichtigsten Veranstaltungen ihres Wahlkampfes: Mittelstand, Natur, Versöhnung von Ökologie und Ökonomie – das sind ihre Themen.
Doch nun geht es nicht mehr allein um die Frage, ob Katarina Blume von Platz 10 der Landesliste über einen engagierten Wahlkampf in die Bürgerschaft einziehen kann. Jetzt geht es um alles. Die FDP kämpft in Hamburg um ihr politisches Überleben, Wahlforscher zweifeln, ob es für den Sprung in die Bürgerschaft reicht. Und obwohl die Hamburger FDP mit den Ereignissen in Thüringen so viel zu tun hat wie der HSV mit der Insolvenz des Traditionsclubs Rot Weiß Erfurt, werden die Liberalen in Sippenhaft genommen.
Blume: „Ich bin eine Kämpfernatur"
Ständig muss Katarina Blume beschmierte Wahlplakate entsorgen, in den sozialen Netzwerken Attacken aushalten, die ihrem Landesverband Nähe zur AfD unterstellen. Und der Druck kommt auch noch von der anderen Seite. An Infoständen heißt es eben auch: „Ihr Idioten! Wieso habt ihr Kemmerling zurückgepfiffen?“ Wieder und wieder muss sie dann erklären, warum die Parteifreunde in Thüringen einen schweren Fehler begangen haben.
Aufgeben ist für Katarina Blume trotz aller Anfeindungen keine Option: „Ich bin eine Kämpfernatur. Aber gerade meine jungen Wahlhelfer tun mir leid.“ Inzwischen hat sie auf ihrer Facebookseite ihren Namen mit dem Schriftzug „Freie Demokraten gegen Faschismus“ ergänzt. Eigentlich wollte sie das nicht: „Diese Haltung ist doch für uns Liberale selbstverständlich.“ In Zeiten wie diesen tun kleine Gesten besonders gut. So setzte sich Altonas SPD-Fraktionschef Thomas Adrian bei einer Ausschusssitzung am Tag nach Thüringen demonstrativ neben sie: „Darüber habe ich mich sehr gefreut.“
AfD: Russlanddeutsche Olga Petersen zählt auf „Landsleute"
Mit routinierten Handgriffen zieht Olga Petersen (37) die Kabelbinder straff und betrachtet dann ihr Werk: Trotz strömenden Regens hängen die Plakate mit ihrem Konterfei und dem Schriftzug AfD perfekt an einem Baum gegenüber dem S-Bahnhof Neugraben. „Länger als 48 Stunden wird das nicht so bleiben“, sagt sie dann. Die Plakate würden beschmiert, zerstört oder geklaut. Deshalb mache es auch keinen Sinn, auf einen Schlag ein ganzes Viertel zu plakatieren.
Auf Platz neun der AfD-Landesliste kandidiert die gelernte Arzthelferin, die sich zur Heilpraktikerin weiterbildet. Sie hat gute Chancen auf ein Mandat. Denn Olga Petersen zählt zu den 90.000 Russlanddeutschen in Hamburg, eine Gruppe, die überdurchschnittlich oft die AfD wählt. „Wir wollen dem Anliegen der Russlanddeutschen im Parlament eine kraftvolle Stimme geben“, schreibt Olga Petersen in einem Brief mit dem Titel „Liebe Landsleute“.
Menschen in „wahrer Not" aufzunehmen
1998 kam Olga Petersen über das Spätaussieder-Programm mit ihren Eltern aus Sibirien nach Deutschland. „Dort waren wir als Russland-Deutsche Menschen zweiter Klasse“, sagt sie. Ihre Großeltern hätten noch viel stärker gelitten, viele aus dieser Generation seien in der damaligen Sowjetunion verfolgt und verschleppt werden.
Was die Frage provoziert, warum sich ausgerechnet Olga Petersen für eine Partei engagiert, die die Flüchtlingspolitik so hart attackiert. „Ich möchte niemandem, der zu uns kommt, sein ganz persönliches Leid absprechen“, sagt sie. Aber wer über sichere Drittstaaten nach Deutschland komme, sei aus ihrer Sicht kein Flüchtling.
Und die Situation der „jungen Männer, die mit Smartphones einreisen“, sei nicht vergleichbar mit der Not ihrer Vorfahren: „Die wurden in Waggons zusammengetrieben und waren tagelang ohne Essen und Trinken unterwegs.“ Dennoch sei auch die AfD bereit „Menschen aufzunehmen, die aus wahrer Not zu uns kommen. Wir sollten sie hier versorgen, aber auch vorbereiten auf eine Rückkehr in ihr Land.“
Holocaust Gegner akzeptiert Petersen nicht
Das älteste ihrer vier Kinder habe sie bewegt, sich für die AfD zu engagieren. „Dabei war ich erst erschrocken, als mein Sohn mir das Wahlprogramm der AfD zeigte. Du weißt, dass ich aus Russland komme, habe ich ihn gefragt.“ Aber dann habe sie sich das Programm durchgelesen, viele Übereinstimmungen aus ihrer Sicht einer konservativen CDU-Wählerin gefunden. Bei ihrem ersten Besuch der AfD habe sie festgestellt, dass sich dort Menschen vieler Nationalitäten engagieren – menschlich habe es gepasst.
Und Björn Höcke, den man ungestraft einen Faschisten nennen darf? „Höcke engagiert sich in Thüringen, wir in Hamburg“, sagt Olga Petersen. Sie könne nicht für jeden Einzelnen in der Partei die Verantwortung übernehmen. Grundsätzlich gelte, dass „jeder Holocaust-Leugner in mir seinen größten Feind hat“. In Hamburg arbeite sie mit „vernünftigen, gebildeten und weltoffenen Menschen“ zusammen.
Freunde haben sich plötzlich abgewandt
Dennoch habe ihr Entschluss, für die AfD zu kandidieren, ihren Freundeskreis verändert: „Viele Menschen, mit denen ich früher zu tun hatte, haben sich plötzlich abgewandt.“ Auch türkische Freunde habe sie verloren: „Manche wollen sich nur noch heimlich mit mir treffen. Sie sagen: Wir können dich nicht mehr zu großen Feierlichkeiten und Geburtstagen einladen.“ Aber es gebe auch Nachbarn, die ihr sagen würden: „Ich werde meine Kreuze bei Ihnen machen.“
Der Wahlkampf für die AfD sei schwierig: „An Infoständen werden wir immer wieder übel beschimpft. Die rufen: ‚Haut ab, ihr Nazis.‘“ Und es komme auch vor, dass Infostände umgeschmissen werden. Ganz schlimm sei es einem Parteifreund ergangen: „Der hat einen Faustschlag ins Gesicht bekommen.“
Die alleinerziehende Mutter will dennoch weiter kämpfen, es gehe, sagt sie, um die Zukunft der Kinder. Diese würden in Kitas und Schule indoktriniert, etwa mit Sprüchen wie der ‚Diesel ist böse‘. Die „Frühsexualisierung“ sei ein Irrweg, ein Verbot von Schweinefleisch an Schulen nicht akzeptabel. Ihren Ex-Mann wird sie damit kaum überzeugen können. „Der wählt die Grünen“, sagt sie und lacht.