Hamburg. Noch ein Monat bis zur Wahl: Das Tagebuch soll Antworten auf die vielen offenen Fragen geben. Inklusive wöchentlicher Wahlprognose.

Ältere Semester werden sich erinnern. Das Jahr 1974 war ein besonderes Jahr. Die Nationalelf der längst verblichenen DDR besiegte im Volksparkstadion in der WM-Vorrunde den späteren Weltmeister Deutschland mit 1:0, am 8. Januar 1974 beendete Willy Brandt die autofreien Sonntage. Und noch etwas geschah 1974 zum letzten Mal: Damals blieb nach einer Bürgerschaftswahl eine Rathauskoalition in der Hansestadt unverändert im Amt.

Trotz großer Verluste der SPD bestand die sozialliberale Koalition fort. Seitdem, also seit 45 Jahren, ist eines in Hamburg gewiss: Wenn der Wähler spricht, ändert sich die Arithmetik der Macht. Und dieses Mal kommt erstmals seit 2008 eine weitere Neuigkeit dazu: Wer Bürgermeister oder Bürgermeisterin wird, ist 2020 unklar.

Tagebuch soll Antworten auf Fragen rund um die Bürgerschaftswahl geben

Nutzen wir den letzten Monat vor der Bürgerschaftswahl für ein Wahl-Tagebuch der besonderen Art. So viele Fragen waren selten. Darf ein bürgerlicher Genosse noch die SPD wählen? Was soll ein konservativer Christdemokrat machen? Wie verändern sich die Grünen, wenn sie vom Kellner zum Koch werden?

Frageportal und Kandidatencheck von abgeordnetenwatch.de

Warum werden die Liberalen möglicherweise zum Königsmacher? Beginnt in Hamburg das Ende vom Aufstieg der AfD? Und was wird aus der Linkspartei? Fragen, auf die dieses Tagebuch Antworten geben möchte. Von heute an soll es täglich im Abendblatt erscheinen.

Folgen neuer SPD-Parteispitze für Hamburg

Aber beginnen wir mit der Frage, die nicht nur das Umfeld des Bürgermeisters und die Stadt umtreibt, sondern das politische Berlin und die Republik insgesamt: Seit die SPD-Basis das so linkslastige wie unerfahrene Duo aus Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken an die Parteispitze gewählt und zugleich Hamburgs Ex-Bürgermeister Olaf Scholz abgestraft hat, stellt sich die Frage nach den Folgen dieses schweren Politbebens. Gerade in Hamburg, der Heimat des geschlagenen Bundesfinanzministers.

Die Wahlerfolge eines Olaf Scholz – aber auch vieler seiner Vorgänger – bestanden ja darin, stets auch in der Mitte und darüber hinaus wählbar zu sein. In Hamburg halten manche bürgerlichen Wähler die SPD seit Dohnanyis Zeiten sogar für die bessere CDU. Und so werden stramme Christdemokraten alle fünf Jahre einen Wahlsonntag lang plötzlich zu Wechselwählern.

Wilhemsburg und Finkenwerder sind SPD-Hochburg

Meine kleine Wahlumfrage beim schwerbürgerlichen Blankeneser Neujahrsempfang am 9. Januar brachte ein überraschendes Ergebnis: Nicht nur Wilhelmsburg oder Finkenwerder sind eine SPD-Hochburg, sondern auch der Süllberg. Zumindest nachts um halb eins.

Wer die Erfolge der Hamburger SPD verstehen will, muss die Zahlen lesen: Bei der Bundestagswahl 2013 gingen Union und SPD in Hamburg bei rund 32 Prozent gleichauf ins Ziel – eineinhalb Jahre später lagen zwischen den beiden Parteien bei der Bürgerschaftswahl fast 30 Prozentpunkte.

Bundestagswahlen nicht gleich Bürgerschaftswahl

Wären heute Bundestagswahlen, landete die SPD auch in Hamburg mit 16 Prozent abgeschlagen auf dem dritten Rang, bei der Bürgerschaftswahl liegt sie vorn. Hier ist die SPD noch Volkspartei. Noch. Man muss Olaf Scholz ja nicht mögen, aber das war auch sein Verdienst.

Diese Zahlen verdeutlichen das Ausmaß der Todessehnsucht der Genossen. Saskia Esken beispielsweise bekam bei der Bundestagswahl 16,9 Prozent der Erststimmen im Wahlkreis Calw. Mit diesen Werten mag sie besser zur Partei passen, die bundesweit bei 14 Prozent liegt. Aber eine besondere Expertise in Sachen Wiederauferstehung lässt sich daraus kaum ableiten.

Rettung der SPD überhaupt möglich?

Es mutet eher skurril an, dass die Genossen ausgerechnet die Rettung einer Frau aus Baden-Württemberg anvertrauen. In Eskens Heimatländle schwankt die SPD derzeit um zehn Prozent. Und der Mann an ihrer Seite kann ein Kunststück in seine Vita schreiben: Norbert Walter-Borjans war Finanzminister, als die SPD Nordrhein-Westfalen 2017 verspielte.

Tschentscher hätte also eine Ausrede parat, wenn es am 23. Februar danebengehen sollte. So hielt es auch SPD-Spitzenkandidat Michael Naumann, als er am 24. Februar 2008 die Wahl gegen Ole von Beust verlor. Er machte SPD-Parteichef Kurt Beck für seine Niederlage verantwortlich: Der hatte kurz zuvor in weinseliger Runde im Restaurant Das Parlament über eine mögliche Zusammenarbeit der SPD in Hessen mit der Linkspartei schwadroniert – damals ein Tabu- und Wortbruch in einem. Drolligerweise ist heute die CDU so weit – zumindest diskutiert sie eine Zusammenarbeit mit der Linken in Thüringen.

Eisiger Gegenwind aus Berlin

Wie sich die Zeiten ändern: Damals reagierten SPD-Wähler und Sympathisanten auf Becks Gedankenspiele empört. Michael Naumann wollte aus Wut sogar den obligatorischen Fototermin am Wahlmontag platzen lassen. Er glaubt, der Vorgang im „Parlament“ habe ihn zwei bis drei Prozentpunkte und „womöglich den Wahlsieg gekostet.“

Eine Beckmesserei dürfte es bei Tschentscher nicht geben, er würde niemals in der Öffentlichkeit bei anderen die Schuld suchen. Aber der Gegenwind aus Berlin ist eisig wie ein Blizzard. Deshalb grenzt sich Tschentscher geradezu demonstrativ vom Berliner Spitzenpersonal ab.

Tschentscher gegen Aufweichung bei Schuldenbremse

Zum Abendblatt-Podcast brachte der Bürgermeister nicht Esken oder Walter-Borjans mit, sondern Familienministerin Franziska Giffey. Inhaltlich sprach er sich gegen Aufweichungen bei der Schuldenbremse und der schwarzen Null aus. Die Parteilinke schäumte. Am Dienstag twitterte ein „Parteifreund“: „Wenn du lieber dem #Neoliberalismus frönst und mit #CDU, #FDP und #INSM kuscheln willst – bist du wohl doch der Falsche für #Hamburg“.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Es gibt viele bürgerliche Wähler, die beim bloßen Gedanken daran hyperventilieren, dass Saskia Esken einen Wahlsieg von Tschentscher in der Tagesschau mit dem Sozialistengruß feiern könnte. Auf der anderen Seite, so machen sich die Sozis Mut, sei ein Sieg der pragmatischen Hamburger Sozialdemokratie über die süddeutschen Genossen, die nur das Wolkenkuckucksheim regieren, ein Ausrufezeichen für mehr Realitätssinn bei Deutschlands ältester Partei. Na ja.

SPD Hamburg lehnt Wahlkampfhilfe der SPD-Spitze ab

Einfacher wird es jedenfalls nicht, denn in der Mitte kann die SPD viel mehr verlieren, als sie links gewinnen kann. Und die paar Schwankenden zwischen Linkspartei und SPD werden sich fragen, ob ihre Stimme für Tschentscher am Ende für die neue Parteispitze in Berlin und als Trendwende der darbenden Partei gewertet wird – oder für das glatte Gegenteil: Weil sich die SPD Hamburg ja brüsk jede Wahlkampfhilfe des neuen Duos verbittet, ließe sich ein gutes Ergebnis wie ein Misstrauensvotum deuten.

Das Schöne an der politischen Publizistik ist, dass sich beide Thesen wortreich erklären lassen. Journalisten sind da ein bisschen wie Pippi Langstrumpf. Ich mache mir die Welt, widdewidde, wie sie mir gefällt. Obwohl Pippi Langstrumpf und die SPD, das ist eine andere Geschichte und sollte ein anderes Mal erzählt werden.

Tschentscher: "Die ganze Stadt im Blick"

Tschentscher hat sich entschieden, seiner linken Politvergangenheit zum Trotz, ganz auf die altbewährte Hamburg-Karte zu setzen. Die ganze Stadt im Blick, signalisiert er, und malt seine rote Linie zu den Grünen mit dem Satz „Grüner wird’s nicht“. Immerhin gibt es in der Wirtschaft, bei Unternehmern wie Gewerkschaften ein wachsendes Unbehagen, was unter einer grünen Bürgermeisterin aus dem Hafen wird.

In Hamburgs Herzkammer hat man nicht vergessen, wo die Grünen in den vergangenen Jahrzehnten standen, wenn es um den Schierlings-Wasserfenchel oder den afro-sibirischen Knutt im Besonderen und die Hafeninteressen im Allgemeinen ging. Wenn Wirtschaft und Gewerkschaften mobilisieren, könnte das den Ausschlag geben, warum die SPD am 23. Februar vor den Grünen ins Ziel einläuft.

Hamburger Führungsfiguren wirken bescheiden

Auch die soziale Frage betonen die Sozialdemokraten in den vergangenen Woche lauter und selbstbewusster. Immerhin wusste schon August Bebel: „Ist Berlin die Hauptstadt des Deutschen Reiches, so ist Hamburg die Hauptstadt des deutschen Sozialismus.“ Mit Parteichefin Melanie Leonhard aus Wilhelmsburg und dem Barmbeker Tschentscher haben die Sozialdemokraten zwei Führungsfiguren, die soziale Themen nicht nur aus Soziologieseminaren kennen, und die bescheiden auftreten: Sie fliegen nicht auf eine Finca oder fahren Ferrari, sie nehmen den Bus oder wandern in den Alpen.

Als der Bürgermeister kürzlich in einem großzügigen Salon der Hamburger Gesellschaft beeindruckt zugab, er sei nicht so häufig in solchen Villen, runzelte der Gastgeber die Stirn: Das sei doch keine Villa, sondern nur ein Reihenendhaus. Am Ende liegt eben die ganze Welt im Auge des Betrachters.

Hamburg meine Wahl 2020 Abendblatt Bürgerschaftswahl
Hamburg meine Wahl 2020 Abendblatt Bürgerschaftswahl © HA

Nach Wechesel ins Rathaus taute Tschentscher auf

Interessanterweise wächst Tschentscher in seiner Persönlichkeit eine Stärke zu, die viele beim Amtsantritt von 21 Monaten noch für sein größtes Handicap hielten. Der 54-Jährige sei blass, hölzern, dröge und leicht zu übersehen, mäkelten manche. Auf dem Hamburg-Fest in Berlin 2018 wurden gleich mehrere Männer mit einer entfernten Ähnlichkeit zum Bürgermeister mit einem „Hallo, Herr Tschentscher“ begrüßt.

Der langjährige Finanzsenator, der seine Erfüllung vermeintlich in Excel-Tabellen fand, ist nach dem Wechsel ins Rathaus aufgetaut. Manchmal ist er sogar geradezu mitreißend und witzig, was selbst langjährige Mitarbeiter überrascht. Vielen Sozis dämmert, dass sie mit Peter Tschentscher bessere Aussichten haben – als sie es heute mit Olaf Scholz hätten.

Tschentscher bei Bürgermeisterpräferenz vorne

Inzwischen geben laut Forsa-Umfrage im Auftrag dieser Zeitung 60 Prozent der Hamburger an, mit der Arbeit von Peter Tschentscher zufrieden zu sein. Im August 2018 waren es nur 44 Prozent; und bei der Frage nach der Bürgermeisterpräferenz führt Tschentscher zu Fegebank deutlich mit 45 zu 22 Prozent. Der Wunsch nach dem Wechsel hält sich (noch) in Grenzen. Aber bis zum 23. Fe­bruar ist noch viel Zeit ...