Hamburg. Sieben Jahre lang war der Sozialdemokrat Erster Bürgermeister. Er war so machtvoll wie kaum einer seiner Vorgänger – dann kam G20.
Der Abschied aus dem Amt war eine fast bühnenreife Inszenierung: Im noblen Kaisersaal des Rathauses – dorthin geht der Senat nur, wenn es wirklich wichtig ist – präsentierte Olaf Scholz in seiner letzten Landespressekonferenz als Erster Bürgermeister die spektakulären Pläne für den Bau des Elbtower, der mit 245 Metern einmal Hamburgs höchstes Haus werden soll.
Scholz war an diesem 8. Februar 2018 bereits auf dem Absprung nach Berlin. Eben noch, buchstäblich die Nacht hindurch, hatte der Sozialdemokrat nach extrem zähen Verhandlungen am Abschluss des Koalitionsvertrags mit CDU und CSU entscheidend mitgewirkt und war nun designierter Bundesfinanzminister und Vizekanzler. Doch das Mega-Projekt direkt an den Elbbrücken – den architektonischen Abschluss der Hafen-City nach Osten und kräftigen Kontrapunkt zur Elbphilharmonie – wollte Scholz, von einem Infekt sichtbar gezeichnet und unter Schlafmangel leidend, unbedingt selbst vorstellen.
Und so waren in aller Eile die Präsentation vorbereitet und eine Reihe von Experten dazu gebeten worden, um den preisgekrönten Entwurf des weltberühmten Architekten David Chipperfield vorzustellen. „Dieser Turm passt in seiner klassischen Haltung zu Hamburg. Er ist nicht extravagant, sondern elegant und zugleich raffiniert“, lobte der Bürgermeister, der geradezu schwärmerisch hinzufügte, der Elbtower werde „Teil des Kunstwerks Hamburg“ werden, von dem einst der legendäre Oberbaudirektor Fritz Schumacher gesprochen habe.
Olaf Scholz’ Markenzeichen: Pragmatismus
Die Botschaften dieses etwas eigenwilligen Auftritts: Scholz reibt sich bis zuletzt im Amt des Ersten Bürgermeisters auf, und das Projekt Elbtower soll mit seinem Namen verbunden werden. Es ist gewissermaßen sein Vermächtnis, auch wenn Scholz, dessen Markenzeichen nüchternster Pragmatismus ist, das selbst nie so ausdrücken würde.
Scholz war ziemlich genau sieben Jahre lang Erster Bürgermeister – vom 7. März 2011 bis zum 13. März 2018. Wie nur wenige seiner Vorgänger konzentrierte er Macht auf sich – im Senat und in seiner traditionell aufmüpfigen Partei. Und er lebte diesen Machtanspruch, machte ihn zum Kennzeichen seiner Regierungszeit und drückte nicht zuletzt auch deswegen der jetzt zu Ende gehenden Dekade seinen Stempel auf.
Scholz hat dieses Amt nicht angestrebt. Er hat aber entschlossen zugegriffen, als die Gelegenheit, man kann auch sagen, die Notwendigkeit zur Bürgermeister-Kandidatur da war. Als die Grünen das Rathaus-Bündnis mit der in der Regierungsverantwortung ausgelaugten CDU nach nur zwei Jahren Ende November 2010 platzen ließen, sah Scholz die Chance, das Ruder mit seiner Hilfe zugunsten der SPD nach neun Jahren in der Opposition herumzureißen.
Die Hamburger SPD war zuvor eine im Grunde ratlose Partei
Die SPD war bis dahin eine durch den Stimmenklau bei der Urwahl des Spitzenkandidaten für die Bürgerschaftswahl 2008 traumatisierte, an sich selbst zweifelnde und im Grunde ratlose Partei. Scholz, bei dem man leicht unterschätzt, wie wichtig ihm das Schicksal der SPD ist, sah sich in der Pflicht. Nachdem er in der Folge der Bundestagswahl 2009 nicht mehr Bundesarbeits- und Sozialminister war, wurde er im November zum SPD-Landesvorsitzenden gewählt. „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie“, sagte Scholz in seiner Nominierungsrede. Manche Parteifreunde verstanden das zu Recht als Drohung, aber Scholz hielt sich an dieses Motto.
Olaf Scholz – Stationen einer SPD-Karriere
Dieser in den Jahrzehnten der Verantwortung mit allen Wassern gewaschene Politiker analysierte die Schwächen vor allem des Hauptgegners CDU und nutzte sie aus. „Dieser Senat ist der wirtschaftsfeindlichste Senat seit 1945“, sagte Scholz in einem Abendblatt-Interview. Der Befund hatte in der Handelsstadt Hamburg Gewicht. Im Wahlkampf präsentierte er den sehr anerkannten und bestens verankerten Handelskammer-Präses Frank Horch als parteilosen Kandidaten für das Amt des Wirtschaftssenators – ein Coup.
Und Scholz machte seinen Anspruch des „ordentlichen Regierens“ zum Schlagwort seiner Kampagne. Die Führung der Stadt in den Händen eines nüchtern-rationalen, vielleicht sogar etwas langweiligen, aber verlässlichen Politikers – das entsprach nach den turbulenten Ole-von-Beust-Jahren mit den Eskapaden eines Ronald Schill oder Roger Kusch durchaus dem Wunsch vieler Hamburger. Und als ob er schon im Senat säße und nicht erst dahin wollte, schloss Scholz mit einer Kita-Initiative ein Bündnis, in dem sich die SPD im Falle einer Regierungsübernahme verpflichtete, die Beitragsfreiheit für den Kita-Besuch schrittweise einzuführen.
Olaf Scholz feierte einen beispiellosen Wahltriumph
Am Ende stand ein Wahltriumph, der in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig sein dürfte: Aus der Opposition heraus holte die SPD am 20. Februar 2011 mit 48,4 Prozent die absolute Mehrheit. Es war der Erfolg des Olaf Scholz, der in der Wahlnacht gleich eine Kostprobe seines extrem unemotionalen Amtsverständnisses lieferte. „Tagesthemen“-Moderatorin Carmen Miosga bescheinigte Scholz am Ende eines Live-Interviews, „so euphorisch wie ein Butler zur Tea Time“ zu sein.
Seinen Führungsanspruch – er selbst spricht lieber von Leadership – machte Scholz symbolisch gleich zu Beginn deutlich. Die ersten zwei Wochen nach seiner Wahl regierte er ohne Senatoren, die er erst danach berief. Und Scholz blieb auch als Bürgermeister entgegen den bisherigen Gepflogenheiten der Partei SPD-Landeschef und konnte seine Partei so stets auf Kurs halten.
Seine Amtszeit fiel in die lange Phase wirtschaftlichen Aufschwungs und der Hochkonjunktur. Die Steuermilliarden sprudelten und machten manche politische Wohltat erst möglich, das darf nicht verschwiegen werden. Scholz hielt Wort und schaffte die Gebühren für den Kita-Besuch von Kindern ab drei Jahren und die Studiengebühren ab. Der SPD-Senat schob ein Kita- und Ganztagsschulausbauprogramm an, fuhr die Ausgaben für die Sanierung und Modernisierung der Schulen hoch – gerade junge Familien profitierten von dieser Politik – und legte ein Sanierungsprogramm für die maroden Straßen auf.
Scholz und sein damaliger Finanzsenator, der heutige Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), begrenzten zwar das jährliche Ausgabenwachstum langfristig auf ein Prozent. Wahr ist aber auch, dass der Finanzrahmen des Stadtstaats mehrfach erhöht wurde und manche Investitionsbereiche wie etwa der Schulbau in einen Nebenhaushalt abgeschoben wurden. Das Wahlkampfversprechen, die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst abzubauen, hat der Scholz-Senat nur bezogen auf die Kernverwaltung in den ersten Jahren einhalten können. Ausgenommen vom Stellenabbau waren die personalintensiven Bereiche Schule, Polizei, Feuerwehr und später auch die Justiz.
Olaf Scholz machte das Projekt Elbphilharmonie wieder flott
Mit viel Geld hatte auch der wohl größte Verhandlungserfolg des Bürgermeisters Olaf Scholz zu tun: Der Sozialdemokrat machte das fast gescheiterte Projekt der Elbphilharmonie nach Monaten des Baustillstands 2013 wieder flott. Er nutzte seine Kompetenz und Erfahrung als Rechtsanwalt und geübter Verhandler, um einen Kompromiss mit der Baufirma Hochtief und den Architekten Herzog & de Meuron zu erzielen. Mehr als 200 Millionen Euro kostete die Stadt die Einigung noch einmal. Scholz festigte seinen Ruf als Macher, zumal die Elbphilharmonie pünktlich zum vereinbarten Termin 2017 eröffnet wurde.
Scholz’ Amtszeit ist eng verbunden mit dem ehrgeizigen Wohnungsbauprogramm von zunächst 6000 und später 10.000 Wohnungen pro Jahr. Nach Jahren des Stillstands kurbelte der SPD-Senat die Neubauaktivitäten in Zeiten des Bevölkerungswachstums wieder an. Ein Schlüssel zum Erfolg ist das „Bündnis für das Wohnen in Hamburg“, das Scholz bereits 2011 mit der Wohnungswirtschaft, der städtischen SAGA GWG und den Mietervereinen schloss.
Fast wäre Scholz und der SPD die Wiederholung des Wahlerfolgs von 2011 im Februar 2015 geglückt. Doch mit 45,6 Prozent scheiterten sie knapp an der Marke, und ein Koalitionspartner war erforderlich. Scholz hatte sich für diesen Fall frühzeitig für die Grünen ausgesprochen, und so kam es. Doch sein Führungsanspruch war ungebrochen. „Es geht, glaube ich, nicht um einen Umbau, sondern einen Anbau“, ließ er die Grünen hinsichtlich ihrer Bedeutung im Senat frühzeitig wissen.
Die Hamburger hatten in einem Volksentscheid gegen Scholz’ Willen für den kompletten Rückkauf der Energienetze gestimmt, was der Politik der Grünen entsprach. Das erleichterte den Start des rot-grünen Bündnisses, doch auf allzu viele Zugeständnisse mochte sich die Scholz-SPD nicht einlassen, zumal das Wahlergebnis der Grünen mit 12,3 Prozent eher mittelprächtig war.
Die politischen Rückschläge: Olympia und G20
In seine zweite Amtsperiode fielen die beiden großen politischen Rückschläge für Olaf Scholz. Beide hatten mit dem erklärten Bemühen des Ersten Bürgermeisters zu tun, Hamburg auf der Weltkarte präsenter zu machen. Im November 2015 votierten die Hamburger in einem Referendum mit der knappen Mehrheit von 51,6 Prozent gegen die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2024. Entscheidend für den Misserfolg war ein schwerer politischer Fehler, wie er Scholz in der Zeit als Bürgermeister nur sehr selten unterlaufen ist.
Kurz vor der Abstimmung präsentierte er ein Finanzierungskonzept, nach dem Hamburg für die Spiele 1,2 Milliarden Euro und der Bund 6,2 Milliarden Euro ausgeben sollte. Das Dumme: Es gab bis zum Referendum gar keine Finanzierungszusage des Bundes, schon gar nicht in dieser Höhe. Dass Scholz die Zahlen gleichwohl öffentlich nannte, sahen manche als Erpressungsversuch an, um nicht von einer Verzweiflungstat zu sprechen. Auf ein derart riskantes finanzielles Abenteuer mochten sich die Hamburger nicht einlassen.
„Wir hatten uns ein anderes Ergebnis gewünscht“, sagte Scholz mit völlig unbewegter Miene nach Bekanntgabe des Ergebnisses. Gefühle öffentlich zu zeigen, passt nicht zu seinem Selbstverständnis als Politiker. Er fürchtet, dass das als Schwäche ausgelegt werden könnte. Aber nicht nur viele Sportler waren hier von der fehlenden Empathie des Bürgermeisters enttäuscht.
Scholz hatte den G-20-Gipfel fast im Alleingang nach Hamburg geholt
"Welcome to Hell" – die Krawallnacht in Hamburg
Ungleich härter traf es Scholz im Juli 2017: Der G-20-Gipfel mit seinen Gewaltexzessen hätte ihn fast aus dem Amt katapultiert. Es war „sein“ Gipfel: Scholz hatte im Alleingang – weder seine Partei noch der Koalitionspartner von den Grünen waren beteiligt – der Bitte von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) entsprochen, das Treffen der Staats- und Regierungschefs in Hamburg auszurichten. Von Anfang an hatte es massive Bedenken gegen den Konferenzort Messehallen direkt neben dem Schanzenviertel, der Hochburg der linksextremen Szene, gegeben.
Trotz einer europaweiten Mobilisierung gewaltbereiter Autonomer hatte Scholz im Vorfeld eine „Sicherheitsgarantie“ für alle Bürger und Gäste gegeben. Ausgerechnet dieses eine Mal hatte der sonst so abwägend formulierende Scholz den Mund schlicht zu voll genommen. In den Wochen nach dem Gipfel wirkte der Bürgermeister wie paralysiert.
Nur mühsam und unter Aufbietung großer Energie gelang es seinem Umfeld, ihn davon zu überzeugen, die Hamburger in seiner Regierungserklärung wenige Tage nach dem G-20-Chaos um Entschuldigung zu bitten. Fehler zuzugeben gehört eigentlich nicht zum Instrumentenkasten des Politikers Olaf Scholz.
„Ich glaube, Sie haben gemerkt, wie gern ich Hamburger Bürgermeister bin“
Einmal abgesehen von dem G-20-Makel dürften die Bürgermeisterjahre zu seinen glücklichsten als Politiker zählen: Nie zuvor und nicht danach, wie seine Niederlage bei der SPD-Mitgliederentscheidung über den Parteivorsitz gerade gezeigt hat, war Scholz so beliebt. Dass er dennoch wie außer ihm nur zwei andere Nachkriegs-Bürgermeister freiwillig aus dem Amt schied, offenbart nicht zuletzt seinen politischen Ehrgeiz.
„Ich glaube, Sie haben gemerkt, wie gern ich Hamburger Bürgermeister bin“, sagte Scholz am Ende der Pressekonferenz zur Elbtower-Entscheidung und fügte einen Satz hinzu, der sich offensichtlich nicht von selbst verstand: „Sie sehen also, dass das etwas ist, was mich emotional sehr bewegt.“ Dass die sieben Jahre an der Spitze des Senats auch für diesen nüchternen Mann wohl doch mehr waren als nur eine weitere Stufe auf der Karriereleiter, zeigte eine Episode am Rande: Scholz ließ prüfen, der wievielte Hamburger Bürgermeister er war. Vorbehaltlich weiterer historischer Forschungsergebnisse steht er auf Platz 198.
Vielleicht schwingt neben der Demut vor der langen Reihe der Vorgänger sogar etwas Stolz bei ihm mit, an einigen Kapiteln des offenen Projekts, das Hamburg heißt, mitgeschrieben zu haben.