Hamburg. In Eimsbüttel, Altona, Nord und Mitte sind jetzt die Grünen stärkste Kraft – und suchen sich möglicherweise neue Verbündete.

Es ist ein politisches Beben, das am Montag erhebliche Erschütterungen bei den Parteien auslöste. Nach ihrem Triumph bei der Europawahl gingen Die Grünen auch aus den Bezirkswahlen als klar stärkste Kraft hervor. In vier der sieben Bezirke stellt sie künftig die stärkste Fraktion: In Altona, Eimsbüttel, Nord und – sicherlich am überraschendsten – in Mitte, wo die SPD seit Jahrzehnten ihre besten Ergebnisse einfuhr. Nur in Bergedorf sowie – jeweils hauchdünn – in Harburg und Wandsbek liegt die SPD vor den Grünen. In den sieben Bezirken ergibt sich folgendes Bild.

Altona

Als sich am Mittag der große Wahlerfolg abzeichnete, lud die Partei spontan alle Kandidaten und Wahlkampfhelfer zu einer Party am Abend in die Parteizen­trale der Altonaer Grünen ein. „Mit einem solch überragenden Ergebnis hatte ich niemals gerechnet“, sagte Gesche Boehlich, die bereits 1993 der Bezirksversammlung angehörte. Die Fraktionschefin führt den Höhenflug ihrer Partei (35,1 Prozent) auch auf bundesweite Trends zurück: „Die Bewegung ‚Fridays for Future‘ hat uns geholfen.“

Bei SPD und CDU gab es dagegen keinen Grund zum Feiern. „Dieses Ergebnis ist enttäuschend“, sagte Sven Hielscher, Fraktionschef der CDU, zu den 16,6 Prozent (minus 6,7 Punkte). Offenbar gehe es den meisten Deutschen wirtschaftlich inzwischen so gut, dass man sich verstärkt für eine „Schön-Wetter-Partei“ entscheide: „Die Grünen fühlen sich für das Gute im Leben zuständig.“ Die Altonaer Grünen würden allerdings auch mit Ökonomie punkten, deshalb halte er eine Koalition für möglich. Bereits 2004 gab es eine solche Koalition. Damals waren die Grünen allerdings nur der Juniorpartner.

Auch die SPD musste gegenüber 2014 massive Verluste hinnehmen (20,4 Prozent, minus 9,6). „Der bundesweite Trend hat uns runtergedrückt“, sagte Fraktionschef Thomas Adrian. Er kann sich eine Zusammenarbeit mit den Grünen vorstellen, auch ohne Koalition habe man „zu 80 bis 90 Prozent“ mit der Fraktion übereingestimmt. Adrian ist überzeugt, dass die Bürger mit der Politik des rot-grünen Senats insgesamt sehr zufrieden seien: „Es gibt aber einen verstärkten Wunsch nach einem Wechsel auf dem Fahrersitz.“ Dies will Adrian verhindern: „Ich werde alles dafür tun, dass Peter Tschentscher Bürgermeister bleibt.“

Melanie Leonhard und Peter Tschentscher zum Wahlausgang:

Die FDP war mit dem Ergebnis (6,8 Prozent) zufrieden, obwohl man auf ein noch besseres Ergebnis gehofft hatte. Die Linke verbesserte sich auf 14,8 Prozent (plus 0,8), die AfD holte 4,3 Prozent (plus 1). Spannend bleibt die Wahl des neuen Bezirksamtschefs, Liane Melzer hört Ende August auf. Auch in dieser Frage führt kein Weg mehr an den Grünen vorbei.

Eimsbüttel

Stark waren sie in Eimsbüttel seit Jahrzehnten, jetzt sind die Grünen mit 37,2 Prozent die mit Abstand stärkste Kraft. Es ist auch das beste Ergebnis aller sieben Bezirke. Die Wahlgewinner äußerten sich erst am Abend per Pressemitteilung. „Wir sehen diese Wahl als klaren Gestaltungsauftrag an. Während wir bislang erfolgreich mitgestaltet haben, sind wir jetzt in der Führungsrolle in der bezirk­lichen Politik“, so die Spitzenkandidatin Lisa Kern und der Kreisvorsitzende Till Steffen.

Und weiter: „Klar ist: Wir wollen zukünftig in Eimsbüttel die Bezirksamtsleitung stellen. In zwei Wochen wird unsere Kreismitgliederversammlung entscheiden, mit welchen Parteien wir Gespräche über die Bildung einer Koalition aufnehmen. Hierzu wird der Kreisvorstand nächste Woche einen Vorschlag machen.“ Das klingt nicht zwingend nach einer Fortsetzung von Rot-Grün mit umgekehrten Vorzeichen.

Milan Pein, der Kreisvorsitzende der SPD, machte aus seinem Frust keinen ohnehin Hehl. „Natürlich ist das eine Riesen-Enttäuschung für uns“, sagte er zu den 23,1 Prozent, die seine Partei holte – minus 10,2 Punkte. Die Zusammenarbeit mit den Grünen würde er gern fortsetzen. „Aber jetzt liegt es natürlich an den Grünen, die sich äußern müssen, wie es weitergehen soll.“

Die CDU verlor 6,4 Punkte und hat nun 16,3 Prozent. Die Linke legte ganz leicht zu (plus 0,6) und kommt auf 10,4 Prozent. Auch FDP (6,5 Prozent, plus 2,0) und AfD (4,9, plus 1,0) gewannen.

Nord

Fast 15 Prozentpunkte dazugewonnen, mit 35,7 Prozent deutlich stärkste Kraft – klar, dass die Grünen frohlocken. „Die Zeit, in denen wir uns als kleiner Koalitionspartner an vielen Themen die Zähne ausgebissen haben, sind vorbei“, sagte Sina Imhof, die Spitzenkandidatin der Grünen. Von dem guten Ergebnis sei sie „im positiven Sinne erschlagen“ worden, sagte sie. „Jetzt heißt es für uns, alles zu geben, damit wir das Vertrauen nicht enttäuschen.“

Dass die Affäre um die Rolling-Stones-Karten SPD-Wähler zu den Grünen getrieben haben könnte, schließt Sina Imhof aus. „Das Ganze hat der SPD bestimmt geschadet. Aber unsere Wähler sind sicher so rational, dass sie uns wegen unserer bisherigen Arbeit gewählt haben.“ Wer möglicher Koalitionspartner werden könne, müsse auf der Mitgliederversammlung besprochen werden. „Wir haben mit der SPD gut zusammengearbeitet, aber es geht darum, mit wem wir die meisten Inhalte teilen.“ Ähnlich verhalte es sich mit einem Kandidaten für die Bezirksamtsleitung, die seit fast einem Jahr vakant ist. „Auch hier gilt: Wen finden wir, mit dem wir unsere Inhalte umsetzen können?“

Großer Verlierer ist die SPD, die 13,1 Punkte verlor und bei 20,8 Prozent landete. Diesen „Erdrutsch“ schiebe sie auf die Europapolitik und den bundesweiten Trend, sagt Anja Domres, Vorsitzende des SPD-Kreisverbands. „Das Thema Klimaschutz hat eine große Rolle gespielt und sollte auch für uns ein wichtiges Thema der Zukunft sein.“ Dass das schlechte Ergebnis der SPD mit der Freikarten-Affäre zu tun habe, könne sie zwar nicht ausschließen. „Da die Verluste der SPD in allen Bezirken ähnlich sind, gehe ich eher von einem Negativtrend aus.“ Den größten Verlust gab es allerdings im Bezirk Nord.

Die CDU (17,5, minus 6,2) wird zwei ihrer elf Mandate abgeben müssen. „Ein bitterer Einschnitt“, sagt Spitzenkandidat Andreas Schott. Der Bundestrend habe auch bei den Bezirkswahlen durchgeschlagen. Ein weiterer Gewinner ist die FDP (plus 3,4 auf 7,7 Prozent). Auch die Linke legte – ganz leicht – zu: Sie kommt nun auf 9,6 Prozent (plus 0,1); die AfD gewann 4,6 Prozent der Stimmen (2014: 3,7 Prozent).

Mitte

Dass die Grünen auch in Mitte stärkste Kraft sind, ist wohl die größte Überraschung der Wahl: Mit 29,3 Prozent liegt die Partei 2,3 Punkte vor der SPD. Grüne und SPD hätten damit eine komfortable Mehrheit in der Bezirksversammlung – andere Koalitionen wären rechnerisch schwierig. Die Grünen-Spitzenkandidatin Sonja Lattwesen kündigte an, „dass wir mit der SPD Gespräche aufnehmen werden. Es wird sich zeigen, ob wir mit der SPD auf einen Nenner kommen.“

Die neuen Mehrheitsverhältnisse könnten auch zu einem Wechsel an der Verwaltungsspitze führen. „In der Regel hat die stärkste Fraktion das Vorschlagsrecht für den Bezirksamtsleiter“, sagte Lattwesen dem Abendblatt. Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) ist bis 2022 gewählt, könnte aber theoretisch abgewählt werden.

Naturgemäß wenig begeistert zeigte sich SPD-Spitzenkandidat Tobias Piekatz: „Zufrieden sieht anders aus. Wir werden nun zunächst erst einmal analysieren, wie es zu diesem Ergebnis kommen konnte.“ Mit wem die SPD koalieren wolle, ließ Piekatz auch offen: „Wir werden dazu in den nächsten Tagen Gespräche führen.“ Von einem „schlimmen Ergebnis“ sprach Roland Hoitz, der Spitzenkandidat der CDU. Rechnerisch habe die CDU (12,1 Prozent, minus 6,4) weder mit den Grünen noch mit der SPD eine Mehrheit und komme deshalb wohl als Koalitionspartner nicht infrage.

Wandsbek

Die Wandsbeker Spitzenkandidatin der Grünen, Maryam Blumenthal, zeigte sich überrascht vom hohen Sieg der Grünen in Hamburg. „Wir Wandsbeker Grünen hatten für die Bezirksversammlung mit zehn, allenfalls zwölf Mandaten gerechnet. Jetzt werden es um die 15“, sagte sie. Die Grünen liegen mit 26,3 Prozent nur ganz knapp hinter der SPD (26,7), die 11,2 Punkte verlor. Blumenthal hat als Person die meisten Einzelstimmen im Bezirk gewonnen. Sie machte den Bundestrend und die Schülerdemos zum Klima, aber auch lokale Faktoren ihr gutes Abschneiden verantwortlich. „Wir sind die Partei, die für eine Verkehrswende steht und nicht zurückrudert, wenn die Autofahrer sich beschweren“, sagte Blumenthal.

Die Koalition mit der SPD stellte sie nicht grundsätzlich infrage. „Aber wir wissen, dass die CDU gern regieren möchte und dass auch die FDP etwas beisteuern will, wenn sie jetzt wieder eine Fraktion in der Bezirksversammlung bilden wird“, sagte Blumenthal, Ihre Partei werde erst einmal abwarten und in Ruhe überlegen. „Aber wir wären ja verrückt, wenn mit unserem guten Ergebnis nicht auch einmal die Frage nach der Bezirksamtsleitung stellen würden.“ Derzeit „regiert“ Thomas Ritzenhoff (SPD), der nach seiner Wiederwahl mit grünen Stimmen erst 2,5 von 6 Jahren amtiert hat.

Die Wandsbeker Spitzenkandidatin der SPD, Anja Quast, sagte: „Das Ergebnis ist für die SPD ernüchternd. Wir werden nun zunächst in unseren Gremien auswerten, inwieweit es allein dem Europa- und Bundestrend geschuldet ist oder wo auch bezirkliche Themen eine Rolle gespielt haben.“ Die CDU verlor 7,1 Punkte (22,2 Prozent), die FDP kommt auf 7,0 (plus 3,1), die Linke auf 7,2 (unverändert) und die AfD auf 7,7 (plus 2,2).

Bergedorf

Auch hier stürzt die SPD auf ein historisches Tief von nur noch 26,4 Prozent und stellt statt bisher 19 voraussichtlich nur elf der 45 Abgeordneten. Das hat Folgen für die bisherige rot-grüne Phalanx, denn obwohl die Grünen ihr Ergebnis mit 21,9 Prozent fast verdoppelt haben, reichen ihre künftig zehn Abgeordneten nicht für eine gemeinsame Mehrheit.

Allerdings: Im Gegensatz zu den anderen Bezirken bleibt die ganz große Wahlschlappe für die früheren Volksparteien im Bergedorfer Rathaus aus: Die SPD ist weiter, wenn auch knapp, stärkste Kraft. Und die CDU schiebt sich mit vergleichsweise leichten Verlusten (jetzt 24,3 Prozent) und nun elf Sitzen noch vor die Grünen auf Platz zwei. Dahinter wachsen die Linken leicht auf 10,5 Prozent oder fünf Sitze. Rot-rot-grüne Mehrheiten wären möglich.

Der AfD gelingt es, trotz heftiger Vorstands-Querelen im Wahlkampf, ihr Ergebnis mit 8,5 Prozent fast zu verdoppeln. Neu in der Bezirksversammlung ist die FDP, die es auf 5,5 Prozent und somit wohl drei Sitze bringt. Die erstmals angetretenen Freien Wähler scheitern mit 2,9 Prozent denkbar knapp an der Drei-Prozent-Klausel.

Harburg

Es ist sehr knapp, aber die SPD bleibt stärkste Kraft in der Bezirksversammlung. Bei der vorigen Wahl mit über 40 Prozent noch deutlich stärkste Partei, reichten jetzt 27,1 Prozent hauchdünn – die Grünen kamen auf 25,8 Prozent.

Während der Jubel im Harburger Grünen-Büro entsprechend groß ist, ist man im Herbert-Wehner-Haus der SPD eher zerknirscht: „Wir haben das Minimalziel, stärkste Partei zu werden, erreicht“, sagt der Kreisvorsitzende und Spitzenkandidat der SPD, Frank Richter. „Aber das Ergebnis ist ohne Frage enttäuschend.“

Der Kreisvorstand der Harburger SPD will sich schon heute Abend Gedanken machen, wie und mit wem man Politik für Harburg machen möchte, so Richter. Ein rot-grünes Bündnis hätte eine Mehrheit, denkbar wäre auch eine Koalition aus SPD, CDU und FDP oder ein rot-grün-rotes Dreierbündnis mit einer stabileren Mehrheit. Wahrscheinlich ist das jedoch nicht: „Es gäbe mit CDU und FDP in vielen Fragen zu viele Differenzen“, sagt Richter. Ihm wäre ein Bündnis mit den Grünen lieber.

Das sieht Britta Herrmann, Spitzenkandidatin der Grünen, zwar ähnlich, aber einen Koalitionsauftrag leitet sie daraus nicht zwingend ab. „Die wechselnden Mehrheiten nach dem Ende der GroKo waren konstruktiv und spannend“, sagt sie. Eine mögliche Koalition wollen die Grünen laut Britta Herrmann davon abhängig machen, mit wem sie ihre Vorstellungen ökologischer Politik am besten verwirklichen können. „Wir haben aus der Bezirks- und aus der Europawahl einen klaren Auftrag zur Klimarettung. Das müssen wir auch auf kommunaler Ebene umsetzen.“

Rechnerisch denkbar wäre auch ein Jamaika-Bündnis der Grünen mit CDU und FDP, die wieder mit Fraktionsstärke in der Bezirksversammlung vertreten sein. „Das macht uns alle stolz“, sagt Victoria Isabell Ehlers, die Spitzenkandidatin. Trüb ist die Stimmung bei der CDU. Sie ist auf 19,3 Prozent gesunken und gab damit fast zehn Prozentpunkte ab. „Das ist völlig unbefriedigend“, sagt CDU-Spitzenkandidat Ralf-Dieter Fischer. „Das reicht uns nicht. Wir haben es vor allem versäumt, unsere Inhalte jungen Wählern nahezubringen, und das nicht nur im Bezirk. Wir sind als Partei insgesamt schlecht aufgestellt, was neue Medien angeht.“