Hamburg . Geht Olaf Scholz nach Berlin, braucht die Stadt nicht nur einen neuen Bürgermeister – es gäbe einen Dominoeffekt.
Erstes Opfer der Großen Koalition ist im Hamburger Rathaus der für Pakete und Briefe zuständige Deutsche-Post-Vorstand. Eigentlich hatte Jürgen Gerdes am Donnerstag um elf Uhr im Bürgermeistersaal mit Olaf Scholz ein „Memorandum of Understanding“ unterzeichnen sollen – mit dem Ziel, Pakete und Briefe künftig mit E-Autos zuzustellen und die Hamburger Luft zu verbessern. Nun aber hat der Noch-Bürgermeister anderes zu tun. Also wurde der Termin abgesagt.
Statt also Treffen zur Klimarettung vorzubereiten, begann am Mittwochvormittag im Rathaus das große Spekulieren und Sondieren über die künftige Aufstellung der in Hamburg nach wie vor mächtigen SPD in Senat und Fraktion. Wenn nämlich die Mitglieder der im Bund darbenden Traditionspartei einer neuen „GroKo“ zustimmen und Olaf Scholz als Vizekanzler und Finanzminister nach Berlin ginge, würde in Hamburg einiges durcheinander gerüttelt.
Bekommt Hamburg eine Erste Bürgermeisterin?
Die Stadt bräuchte nicht nur einen neuen Bürgermeister, sondern durch einen Dominoeffekt womöglich auch einen neuen SPD-Fraktionsvorsitzenden oder neue Senatoren. Galt bis vor kurzem noch der bisherige SPD-Fraktionschef Andreas Dressel als gesetzter Nachfolger für den Fall eines Scholz-Weggangs, so werden jetzt, wo es ernst wird, auch andere Namen genannt. Als heißeste Kandidatin nach Dressel gilt Sozialsenatorin Melanie Leonhard.
Die vierzigjährige Harburgerin übernahm im Oktober 2015 das Amt der Sozialsenatorin und hat sich seither einen exzellenten Ruf erarbeitet. Nach vier Jahren als Abgeordnete ist sie auch in der Bürgerschaftsfraktion gut vernetzt. Weiterer Vorteil der promovierten Historikerin: Erstmals könnte mit ihr eine Frau Erste Bürgermeisterin werden. Da auch die Hamburger SPD bisher nur mit Mühe einen passablen Frauenanteil in wichtigen Ämtern sicherstellen kann, wäre das in den Augen vieler Mitglieder ein starkes Signal in die Stadt.
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Andy Grote äußerte sich häufig zu allgemeinen Themen
Ebenfalls für die Scholz-Nachfolge infrage kämen zumindest theoretisch Schulsenator Ties Rabe und Finanzsenator Peter Tschentscher. Beide haben ihre Ämter nach Ansicht der meisten Genossen und auch neutraler Beobachter hoch professionell und erfolgreich ausgefüllt. Innensenator Andy Grote wird ebenfalls hin und wieder genannt. Aus dem Senat heißt es, der seit einem Jahr vor allem mit G20 und den Folgen beschäftigte Jurist habe sich bei den Sitzungen der Regierung zuletzt auffällig oft zu allgemeinen Themen außerhalb seines Ressorts zu Wort gemeldet. „Andy kann sich für sich selbst alles vorstellen“, sagt ein wichtiger Genosse. „Aber er hat in dieser Sache keine guten Karten.“
Auch angebliche Absprachen zwischen Olaf Scholz’ SPD-Heimatkreis Altona und den Mitte-Genossen um den passionierten Strippenzieher und Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs würden da wenig nützen, heißt es. „Da will Johannes vielleicht nur eine Duftmarke setzen“, sagt einer – um Andreas Dressel mal klarzumachen, dass Unterstützung nicht umsonst zu haben ist.
Im Fall Dressel bräuchte die SPD einen neuen Fraktionschef
Sollte der gleichwohl favorisierte Volksdorfer Doktor der Juristerei nach einem Scholz-Abgang Bürgermeister werden, bräuchte es auch für den Schlüsselposten des Fraktionschefs eine Neubesetzung. Hier werden derzeit zwei mögliche Kandidaten genannt: der Parlamentarische Geschäftsführer und Stadtentwicklungspolitiker Dirk Kienscherf und der Eimsbüttler SPD-Kreischef Milan Pein, der zuletzt als Vorsitzender des G20-Sonderausschusses bei den meisten Beobachtern einen guten Eindruck hinterließ.
Selbst Frauen aus der SPD-Fraktion haben derzeit keine Antwort auf die Frage, welche Frau Dressel als Fraktionschefin beerben könnte. Hin und wieder wird spekuliert, die bisherige Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit könnte Fraktionschefin werden und der Altonaer Kreischef und früherer SPD-Landeschef Mathias Petersen sie als Präsident des Parlaments beerben. Andererseits werden sowohl Veit als auch Petersen sogar Ambitionen auf das Amt des Bürgermeisters nachgesagt.
Mit dem Mitgliederentscheid zum neuen Bürgermeister?
Dabei könnten der beliebte Arzt aus Altona und seine Unterstützer einmal mehr auf ein Instrument setzen, dass sie schon häufiger genutzt hat: eine Mitgliederbefragung. Nach bisherigen Plänen würde lediglich ein Parteitag den Nachfolger bestimmen. Eine Mitgliederbefragung aber könnte zu einer längeren Hängepartie führen.
Zudem hat die Hamburger SPD mit dem Stimmzetteldiebstahl von 2007 bei einer Mitgliederbefragung eine ihrer bittersten Erfahrungen der jüngeren Zeit gemacht. Seinerzeit waren Petersen und die heutige Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt beim Kampf um die Bürgermeisterkandidatur 2008 gegeneinander angetreten – und bei der Auszählung stellte sich heraus, dass fast 1000 Stimmzettel verschwunden waren.
Ein paar Abgeordnete möchten Petersen wohl auch als Fraktionschef installieren. Ob er in der Fraktion, die ihren Chef bekanntlich selbst wählt, eine Mehrheit bekäme, gilt als unsicher – weil viele Petersen noch immer mit dem Genossen-Chaos der Nullerjahre in Verbindung bringen.
Carola Veit gilt nicht unbedingt als mehrheitsfähig
Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit wiederum gilt auch nicht unbedingt als mehrheitsfähig. Es sei ja kein Zufall, dass sie seit 2011 niemals Senatorin geworden sei, höhnen ihre Gegner. Tatsächlich hat die selbstbewusste 44-Jährige aus Hamburg-Mitte sich mit ihrer hemdsärmeligen und forschen Art nicht nur Freundinnen und Freunde in der Partei gemacht. Dabei ist es ihr durchaus gelungen, die wichtige Bedeutung des Parlaments gegenüber dem Senat immer wieder dick zu unterstreichen - was nicht jedem in der Entourage des bisherigen Bürgermeisters immer gefiel.
Bei all dem gilt es längst nicht allen Hamburger SPD-Amts- und Mandatsträgern als sicher, dass der Koalitionsvertrag bei der bundesweiten Mitgliederbefragung tatsächlich eine Mehrheit bekommt. In dem relativ großen und als konservativ geltenden SPD-Distrikt Horn haben gerade lediglich 57 Prozent in geheimer Abstimmung für die GroKo gestimmt, wie Distriktschef Hansjörg Schmidt bei Facebook postete. Wenn aber die Mehrheit schon unter konservativen SPD-Mitgliedern so knapp ausfällt, dann sei das kein gutes Omen für die Gesamtpartei, fürchten nun manche.
Zustimmung zum Koalitionsvertrag „kein Selbstgänger“
„Das wird kein Selbstgänger“, sagt eine prominente Genossin. Auch deswegen will sich derzeit niemand zu weit aus den Rathausfenstern lehnen, wenn es um die Vergabe neuer Posten geht. Sollten die SPD-Mitglieder am Ende Nein sagen, wäre dann nämlich nicht nur der mögliche Vizekanzler Olaf Scholz beschädigt – weil er fortan nur noch als Bürgermeister wider Willen wahrgenommen würde. Auch Nachfolgekandidaten, die zurück ins Glied rücken müssten, sähen seltsam komisch dabei aus.
Obwohl in Berlin längst die Ministerposten vergeben zu sein scheinen, versucht man in Hamburg, Medien und Bürger hinzuhalten. Über den Koalitionsvertrag „stimmen jetzt die SPD-Mitglieder ab“, teilte SPD-Sprecher Lars Balcke mit. „Wie 2013 werden wir nach dem Mitgliedervotum entscheiden, wer bei einem positiven Mitgliedervotum für die SPD ins Kabinett geht.“ Dass eine solche Hinhaltetaktik über mehrere Wochen funktioniert, ist allerdings längst nicht ausgemacht – zumal auch viele Genossen gerne vor der Mitgliederbefragung wüssten, wer in den kommenden Jahren für sie Politik machen soll.