Hamburg. Bei Erfolg der Volksabstimmung müssten auf einen Schlag 4500 neue Erzieherinnen eingestellt werden. Doch die gibt es gar nicht.
Eigentlich war das ein Wohlfühltermin. Am Mittwochabend war Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) zu Gast beim DGB, der seinen Kurs für die kommenden Jahre festlegen und die Vorsitzende Katja Karger im Amt bestätigen wollte. Im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof sollte die Senatorin ein Grußwort überbringen – für Leonhard mehr Heim- als Auswärtsspiel, schließlich ziehen Gewerkschaften und Sozialdemokraten trotz mancher Differenzen im Detail im Grundsatz oft an einem Strang.
Der Flyer, den die Senatorin im prächtig restaurierten Musiksaal auf ihrem Tisch vorfand, dürfte ihre Stimmung aber eingetrübt haben. „Es reicht!“, stand dort. „Wir brauchen eine bessere Personalausstattung!“
Kita-Netzwerk fordert einen 1:4-Schlüssel
Absender war das Kita-Netzwerk Hamburg, ein Bündnis aus Eltern, Pädagoginnen und Leitungskräften von Kindergärten. Es will am 4. Oktober eine Volksinitiative starten und fordert eine Verbesserung der Erzieher-Kind-Relation auf 1:4 im Krippenbereich und 1:7,5 im Elementarbereich – und zwar unter Einbeziehung der „Ausfallzeiten“, die die Erzieherinnen zum Beispiel mit Verwaltungskram oder Elterngesprächen verbringen. Erreicht werden sollen die Ziele in verbindlichen Schritten bis 2025, sagt Marina Jachenholz, eine der Gründerinnen des Kita-Netzwerks.
Der Vorstoß, der auch von den Gewerkschaften Ver.di und GEW unterstützt wird, ist in mehrfacher Hinsicht pikant. Erstens ist Jachenholz selbst Sozialdemokratin und zudem Betriebsratsvorsitzende beim städtischen Kita-Betreiber Elbkinder – dessen Aufsichtsratsvorsitzende ist Sozialsenatorin Leonhard. Sich mit der obersten Chefin und den Genossen anzulegen, den Mut haben nicht viele in der SPD.
Zweitens entsprechen die Forderungen weitgehend den Zielen des Senats. Wo dann der Dissens ist? Ganz einfach: im Detail und im Tempo. Die Initiative fordert die Regierung quasi auf, ihre eigene Politik mit mehr Ehrgeiz zu verfolgen. Das macht es schwer für Rot-Grün, dagegenzuhalten.
Eigentlich war man sich über die Ziele längst einig
Rückblick: Auf Druck des Kita-Netzwerks und vieler anderer Akteure hatte sich der damalige SPD-Senat Ende 2014 mit den Sozialverbänden auf Eckpunkte zur Verbesserung der Betreuungsqualität verständigt. Neben kleineren Schritten gab es zwei große Ziele: So sollte in den Krippen (Kinder bis drei Jahre) ab August 2019 eine Erzieherin maximal vier Kinder betreuen – in vielen Bundesländern ist das längst Standard. Und für den Elementarbereich (ab drei Jahre) sollte bis 2025 eine Relation von 1:10 erreicht werden.
Obwohl die Ausfallzeiten da noch nicht eingerechnet waren, erwies sich schon diese Vereinbarung als zu ambitioniert. Und es waren die Kita-Betreiber selbst, die den Senat baten, die Ziele zu strecken, weil sie es für unmöglich hielten, bis 2019 auf einen Schlag 2000 zusätzliche Erzieherinnen zu finden. Im Juni dieses Jahres einigten sich der Senat und die Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (AGfW) daher darauf, die Einstellungsoffensive erst Anfang 2021 abzuschließen. Im Gegenzug soll sie bereits 2018 mit 500 zusätzlichen Kräften beginnen.
Zu diesem Zeitpunkt waren sich also die wesentlichen Akteure einig, welche Ziele in welchem Tempo erreicht werden sollen. Die Wohlfahrtsverbände wollen daran auch festhalten, sagt AGfW-Geschäftsführer Jens Stappenbeck. Doch durch die Volksinitiative wird diese Einigung nun wieder infrage gestellt. Wasser auf deren Mühlen war die jüngste Bertelsmann-Studie zu dem Thema: Demnach lag die Betreuungsquote in Hamburger Krippen 2016 bei 1:5,1 – genau wie im Vorjahr und nach wie vor der schlechteste Wert aller westdeutschen Länder. Im Elementarbereich hat sie sich von 2015 zu 2016 sogar von 1:8,7 auf 1:9 verschlechtert, was allerdings etwas besser war als der Bundesschnitt (1:9,2).
Erzieherinnen und Senat sind gleichermaßen gefrustet
Doch alle diese Zahlen sind graue Theorie, denn die Realität in den Kitas sieht in der Regel ganz anders aus. Dass in einer Krippengruppe eine Erzieherin sieben oder acht Kleinkinder betreuen muss, ist keine Seltenheit und sorgt für Frust bei den Mitarbeiterinnen. „Wir wollen mehr als satt und sauber“, lautet daher ein Slogan des Netzwerks. Die Ausfallzeiten sollten endlich berücksichtigt und das 1:4-Ziel auch gesetzlich verankert werden, fordern sie.
Doch gefrustet ist man auch in der Sozialbehörde. Erstens, weil die Initiative die mühsam verhandelte Einigung bedroht; zweitens, weil man die Bertelsmann-Zahlen nicht nachvollziehen kann; und drittens, weil das Argument der fehlenden Fachkräfte angesichts der neuen Forderungen ja umso mehr gilt. „Wir bräuchten dann auf einen Schlag 4500 neue Erzieherinnen“, gab Leonhard den Gewerkschaften am Mittwoch ungefragt mit auf den Weg.
Die habe man schlicht nicht, die Stadt könne maximal 1000 Erzieherinnen pro Jahr ausbilden. Von den Finanzen mal ganz abgesehen: Schon die bisherige Einigung kostet rund 100 Millionen Euro pro Jahr, die Forderungen der Initiative würden die Ausgaben noch einmal kräftig nach oben treiben.
Das könnte für das Kita-Netzwerk auch in anderer Hinsicht zum Problem werden. Denn Volksinitiativen dürfen nicht übermäßig in den Haushalt der Stadt eingreifen – das wäre hier aber der Fall. „Das sprengt ja jeden Rahmen“, sagt ein Insider.
Dennoch, und weil man die Ziele ja im Prinzip teilt, setzt man im Rathaus wie so oft erst mal auf Dialog. In Kürze trifft sich die Initiative mit den Fraktionschefs Andreas Dressel (SPD) und Anjes Tjarks (Grüne) – die beiden haben schon etliche Konflikte wegmoderiert. Nun ist ihr Verhandlungsgeschick erneut gefragt.