Der „Stimmenklau“ stürzte die Elb-Sozis in eine ihrer schwersten Krisen. Peter Ulrich Meyer erinnert an einen Polit-Krimi

Die Hamburger Sozialdemokraten haben ihre eigenen Bürgermeister gestürzt, wenn sie ihnen nicht mehr passten. Der linke und der rechte Parteiflügel haben sich über Jahrzehnte so erbittert bekämpft, dass daraus lebenslange Feindschaften entstanden. Aber dieses eine Ereignis ragt aus der Skandalchronik heraus: Am Abend des 25. Februar 2007 wäre die SPD beinahe ziemlich kläglich an der innerparteilichen Demokratie gescheitert, weil sich ein Abgrund von Kriminalität auftat. Die „Zeit“ diagnostizierte bei der SPD sogar schon „Todessehnsucht an der Elbe“.

An diesem Sonntag waren viele Genossen durchaus hoffnungsvoll in die Parteizentrale, das Kurt-Schumacher-Haus in St. Georg, gekommen. Es ging um nicht weniger als die Frage, wer als Spitzenkandidat der SPD bei der Bürgerschaftswahl 2008 Bürgermeister Ole von Beust (CDU) herausfordern sollte. Ganz basisdemokratisch waren die damals noch rund 11.500 Mitglieder aufgerufen, in einer Art Urwahl zu entscheiden: entweder der Landesvorsitzende Mathias Petersen oder seine Herausforderin Dorothee Stapelfeldt, die Vizeparteichefin.

Blankes Entsetzen: "Wir haben die Wahl abgebrochen"

Doch die Stimmung kippte. Erst sollte das Ergebnis um 19.30 Uhr bekannt gegeben werden, dann um 20.30 Uhr. Doch nichts passierte, und die Ungewissheit wuchs. Um 21.20 trat ein sichtbar konsternierter und um Fassung ringender Landesvorsitzender vor Parteifreunde und Journalisten. „Wir haben die Wahl abgebrochen, weil Briefwahlstimmen fehlten und für uns nicht erklärbar war, warum“, sagte Petersen. Blankes Entsetzen machte sich breit, als der damals 51-jährige Arzt hinzufügte: „Wir haben hier einen Vorgang, der – so, wie es aussieht – einen kriminellen Hintergrund hat.“ Da konnten einige Genossen ihren tiefen Frust nicht mehr zurückhalten. „Rücktritt, Rücktritt“, riefen sie voller Empörung und meinten damit den kompletten Landesvorstand.

Nüchtern betrachtet war Folgendes geschehen: Bei der Auszählung der rund 6000 Voten fiel schnell auf, dass Briefwahlstimmen fehlten. Weil alle Briefumschläge aufbewahrt worden waren, wussten die Zähler, dass exakt 1459 Parteifreunde auf diese Weise abgestimmt hatten. In der Briefwahlurne lagen aber nur 500 Stimmzettel, 959 fehlten.

Die Zählkommission unterbrach die Auszählung. Der Landesvorstand wurde einberufen und beschloss schließlich, die Wahl abzubrechen – ein beispielloser Vorgang. Doch was waren die Konsequenzen? Wie sollte es weitergehen? Schließlich brauchte die SPD trotz allem einen Spitzenkandidaten. Bis weit in die Nacht tagte die Parteispitze – heillos zerstritten und handlungsunfähig.

SPD-Generalsekretär Hubertus Heil rückte an

Am nächsten Tag rückte die Bundespartei in Gestalt des damaligen Generalsekretärs Hubertus Heil an. Eine Demütigung für die einst so stolze Hamburger SPD. Wieder zogen sich die Beratungen bis in den frühen Morgen hin. Heil hielt die Annullierung der Urwahl für den richtigen Weg und drängte auf den Rücktritt des ganzen Landesvorstands. Petersen dachte anfangs nicht daran und leistete lange Widerstand. Am Ende traten er und der ganze Vorstand zurück.

Die SPD war in diesen Tagen ohnehin ein einziger Scherbenhaufen, aber das Chaos wurde noch durch einen Vorgang gesteigert, der Petersens Beharren auf seinem Amt verständlich werden lässt. Noch in der Nacht zum Montag hatte Hans-Peter Strenge, der Vorsitzende der Schiedskommission, auf Bitten von Stapelfeldt und Petersen weiter auszählen lassen. Das Ergebnis: 2780 Stimmen für Petersen, 1730 für Stapelfeldt. Mit anderen Worten: Petersen lag uneinholbar vorn – die gestohlenen Stimmen, selbst wenn sie alle für Stapelfeldt gewesen wären, hätten nichts mehr am Erfolg von Petersen geändert.

Politisch war die Lage damit klar: Durch den Stimmenklau und die folgenden Entscheidungen (zum Beispiel den Verzicht auf eine Wiederholung der Wahl) war Mathias Petersen um seine Spitzenkandidatur gebracht worden. Er war das Opfer der kriminellen Machenschaften. Der Schaden blieb aber nicht auf Petersen allein begrenzt: Die Führungsriege der SPD hatte sich durch interne Auseinandersetzungen, bei denen es vor allem um persönliche Unverträglichkeiten und kaum um politische Inhalte ging, in eine Sackgasse manövriert.

Das Machtvakuum, das daraus entstand, war die Folge einer Kette verhängnisvoller Entwicklungen. Zu Beginn des Jahres 2007 war es zu einer Revolte gekommen. Fünf der sieben einflussreichen SPD-Kreisvorsitzenden stellten sich gegen Petersen und lehnten es ab, ihn zum Spitzenkandidaten zu küren. Vorausgegangen war eine Reihe von Alleingängen Petersens. Er hatte unter anderem gefordert, Namen und Adressen von Sexualstraftätern im Internet zu veröffentlichen, und den SPD-Landesgeschäftsführer Ties Rabe, heute Schulsenator, ohne Rücksprache entlassen.

Auch ein Misstrauensvotum des Landesvorstands mit 13 zu zehn Stimmen gegen ihn – ebenfalls nach einer dramatischen Nachtsitzung – bewog Petersen nicht zum Rückzug. Im Gegenteil: Er suchte die Entscheidung, hoffte auf die Basis. Nachdem sich die Frondeure Mitte Januar auf Dorothee Stapelfeldt als Gegenkandidatin geeinigt hatten, schien die Urwahl der letzte Ausweg aus dem erbitterten Machtkampf in völlig vergifteter Atmosphäre zu sein. „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?“, rief der fassungslose Altbürgermeister Henning Voscherau seinen Parteifreunden zu. Er sah das Unheil kommen.

Die Rolle von Parteisprecher Ciftlik wurde nie geklärt

Und heute? Die Partei hat längst ihren Frieden mit dem Stimmenklau gemacht, auch wenn diejenigen, die damals dabei waren, die Ereignisse nicht vergessen können. Spätestens seit dem Kantersieg bei der Bürgerschaftswahl 2011, als Olaf Scholz die SPD aus der Opposition zur absoluten Mehrheit führte, sind die Wunden auf der Parteiseele verheilt. Unter den Genossen gelten die traumatische Nacht, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen als aufgearbeitet.

Ein Mitarbeiter leert in der SPD-Zentrale in Hamburg eine Wahlurne mit Stimmen einer Mitgliederbefragung. Im Hintergrund: Bület Ciftlik
Ein Mitarbeiter leert in der SPD-Zentrale in Hamburg eine Wahlurne mit Stimmen einer Mitgliederbefragung. Im Hintergrund: Bület Ciftlik © picture-alliance/ dpa | dpa Picture-Alliance / Maurizio Gambarini

Die Tat selbst ist keinesfalls aufgeklärt. Der oder die Täter konnten bislang nicht ermittelt werden, und sie werden wohl auch nicht mehr ermittelt. Die Staatsanwaltschaft hat ihre diesbezüglichen Bemühungen seit Langem eingestellt. Die Urne mit den Briefwahlstimmen war offensichtlich nicht beschädigt. Der Schlüssel wurde in einem Tresor verwahrt. Der Kreis der Verdächtigen ist daher überschaubar. Wer Sozialdemokraten heute auf den Fall anspricht, hört schnell Gerüchte und Vermutungen.

„Mathias Petersen ist übel mitgespielt worden“, befand der Landesvorsitzende Olaf Scholz im Dezember 2009 nach der Vorstellung des Berichts des SPD-Urgesteins Harald Muras. Er hatte vor allem das Verhalten des Landesvorstands der Jahre 2006/7 scharf attackiert. Einen Verantwortlichen für den Stimmenklau fand auch Muras nicht.

SPD-Mann Petersen: "Der Kerl ist unten durch"

„Das Thema ist weitgehend aus meiner Erinnerung verschwunden“, sagt Petersen heute. Es sei zwar „alles schrecklich“ gewesen, aber: „Ich finde es nicht hilfreich, sich damit noch zu befassen.“ Er wolle nicht mit Groll leben und habe „Spaß an seiner Parteiarbeit“. Petersen ist Altonaer SPD-Chef und Vorsitzender des Haushaltsausschusses. Mit fast allen internen Gegnern von damals komme er heute gut aus. Kleine Pause. Nur mit seinem damaligen Pressesprecher Bülent Ciftlik nicht. „Der Kerl ist bei mir unten durch.“ Die Rolle Ciftliks, der kein Parteiamt mehr innehat, in jener Zeit ist nie geklärt worden.

„Es ist selbstverständlich, dass so ein Vorgang einen nicht unbeeindruckt lassen kann. Das hört nicht auf“, sagt Dorothee Stapelfeldt, heute Stadtentwicklungssenatorin. „Das war unsäglich“, sagt sie und legt dann Wert auf die vielen richtigen Entscheidungen, die die SPD getroffen hat. Ihr Verhältnis zu Mathias Petersen sei „sehr normal“.