Einige Personen genießen paradoxerweise Respekt, weil sie es mit Gesetzen nicht so genau genommen haben. An die Tradition, ungewöhnliche Wege zu beschreiten, hat der Sozialsenator angeknüpft.

Den Deutschen eilt ja der Ruf voraus, auch die letzten Details ihres Zusammenlebens gesetzlich zu regeln. Paradoxerweise – oder ist es eine logische Folge? – genießen einige Personen großen Respekt, gerade weil sie es mit Gesetzen nicht so genau genommen haben: der Frankfurter Polizeichef etwa, der 2002 einen Entführer unter Druck setzte, um dessen Opfer zu retten. Oder Hamburgs Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, der 1987 die besetzten Häuser an der Hafenstraße nicht räumen ließ, obwohl der öffentliche Druck immens war und es dafür durchaus eine gesetzliche Grundlage gegeben hätte. Und über allen thront Helmut Schmidt, der 1962 als Polizeisenator auf die Verfassung pfiff und kurzerhand die Bundeswehr anforderte, um Tausende Hamburger vor der Flut zu retten. Illegal? Egal! „Ich habe mich um Gesetze nicht gekümmert“, so Schmidt später.

Detlef Scheele in diese Reihe zu stellen wäre ein etwas schiefer Vergleich. Aber an die Tradition, im Notfall ungewöhnliche Wege zu beschreiten, hat Hamburgs Sozialsenator in dieser Woche durchaus angeknüpft. Exakt 17Minuten lang informierte der SPD-Politiker die Bürgerschaft am Mittwochabend über die dramatische Flüchtlingslage in der Stadt. Auf dem normalen Behördenwege werde man die 14.000 Plätze, die bis zum Winter gebraucht werden, um allen Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf bieten zu können, nicht mehr erreichen. Mindestens 1500, bis Ende 2015 sogar fast 5000 Plätze würden fehlen, rechnete Scheele vor, um dann einen neuen Kurs zu verkünden: „Wir sind gezwungen, es nach Polizeirecht zu tun. Es geht nicht anders, es ist eine Notlage.“

„Polizeirecht“ – das klingt schon nach Helmut Schmidt, nach unbeschränkten Befugnissen für die Staatsmacht, nach Aushebelung der Grundrechte. Tatsächlich lässt das „Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“, kurz SOG, wie das Polizeirecht in Hamburg heißt, fast jede Maßnahme zu. Die Polizei selbst beruft sich beinah täglich darauf, wenn sie bei „Gefahr in Verzug“ etwa eine Straße sperrt oder in eine Wohnung eindringt. Doch das meinte Scheele nicht. Es gehe nicht um martialische Gesten oder darum, Gebäude zu beschlagnahmen, um sie als Flüchtlingsunterkunft nutzen zu können, betonten Regierungsvertreter.

Vielmehr geht es darum, den eigenen Behördenapparat mit seinen ganz speziellen Regeln auszuhebeln. Muss die Schaffung einer Flüchtlingsunterkunft normalerweise streng nach Paragraf 28 des Bezirksverwaltungsgesetzes ablaufen, was die monatelange Beteiligung von Verwaltung, Politik, Denkmalschützern, Kampfmittelräumern, Naturschützern und so weiter nach sich zieht, läuft es ab sofort anders: Bis Ende September müssen alle Behörden jede infrage kommende Fläche und jedes leer stehende Gebäude an Scheeles Leute melden, egal, ob ehemalige Schule, Kaserne, Hotel oder Baumarkt. Dann entscheidet die „Senko“, die Senatskommission für Stadtentwicklung und Bodenordnung, was gemacht wird. Zack, so einfach ist das. Öffentliche Ausschreibung von Aufträgen? Baugenehmigung? Alles nachrangig. Brandschutz? „Bei Bedenken setzen wir da halt eine Brandwache hin“, heißt es. Lärmschutz? „Ob nachts bei geöffnetem Fenster 30 Dezibel am Ohr des Schlafenden überschritten werden, muss in so einer Situation zurückstehen“, sagt ein Behördenchef.

An so eine politisch getriebene Anwendung des SOG kann sich keiner der Beteiligten erinnern. Selbst der noch viel größere Flüchtlingsstrom Anfang der 90er-Jahre wurde mit anderen Mitteln bewältigt, und zwar nicht von der Behörde, sondern von den Bezirken selbst. Hamburg hatte damals 200.000 Einwohner weniger – wo seinerzeit Flüchtlinge in Containern lebten, stehen heute vielerorts neue Wohnungen. Insofern steht auch das ehrgeizige Wohnungsbauprogramm des Senats den Flüchtlingsheimen im Weg.

Das Vorgehen nach dem SOG ist in Teilen also auch das Eingeständnis eines Scheiterns. Denn die Zahl von 1500 fehlenden Plätzen trägt Scheele schon seit Juni vor sich her, ohne dass sich etwas änderte. Es war auch keine plötzliche Eingebung, jetzt neue Wege einzuschlagen. Seit Wochen liefen Gespräche darüber, wie man trotz deutscher Regelungswut in so einer Krise handlungsfähig bleibt. Am 4. September dann das entscheidende Treffen: In Scheeles Büro an der Hamburger Straße definierten der Senator, sein Staatsrat Jan Pörksen, SPD-Fraktionschef Andreas Dressel sowie die Fachpolitiker Ksenija Bekeris und Jens-Peter Schwieger als oberstes Ziel: „Keine Zeltstädte in Hamburg“, schon gar nicht im Winter.

Nachdem die SPD-Fraktion am Montagabend ins Bild gesetzt wurde, bat Dressel am Dienstag kurzfristig ins Rathaus, um die neue Lage zu verkünden: „Es ist Gefahr in Verzug.“ Man nehme jetzt jede Unterkunft, die verfügbar ist, auch Schiffe. Das polarisierende Wort „Polizeirecht“ vermied er aber noch. Auch in Scheeles Rede am Mittwoch war es eigentlich nicht vorgesehen. Aber offenbar war der Senator der Ansicht, dass einigen immer noch nicht klar war, was die Stunde geschlagen hat. „Es ging darum, die Stadt wachzurütteln“, heißt es aus seinem Umfeld.

Eine offizielle Ansage an die Bezirke, dass sie vorerst nur noch „informiert“ und nicht mehr beteiligt werden, gab es übrigens nicht, wie ein Bezirksamtsleiter leicht angesäuert feststellte. Verständnis habe er aber für das Vorgehen, sagt der Sozialdemokrat. Es einfach in der Tradition Helmut Schmidts zu sehen, ist dabei ganz hilfreich.