Nach dem Tod von Yagmur und Chantal spricht Sozialsenator Scheele über die Belastung der Jugendämter. Er will prüfen lassen, wie viele Mitarbeiter nötig sind, um dem Arbeitsaufwand gerecht zu werden.

Hamburg. Die Hamburger Jugendamtsmitarbeiter vom Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Eine Woche nach dem Protest für bessere Arbeitsbedingungen nimmt Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) Stellung zu den Vorwürfen und Forderungen der ASD-Mitarbeiter. Diese wollen weniger Fälle bearbeiten, um ihre anspruchsvolle Arbeit vernünftig zu erledigen und Todesfälle wie jene von Yagmur und Chantal zu verhindern.

Hamburger Abendblatt:

Sind Sie überrascht von der Wut der ASD-Mitarbeiter?

Detlef Scheele:

Dass es Proteste gibt, gehört zum Geschäft. Wenn wir die ASD-Abteilungen besuchen, dann gibt es Wünsche und auch Klagen. Wut haben wir bei unseren Besuchen nicht festgestellt. Es gibt eine konstruktiv-kritische Haltung zwischen Politik und ASD-Mitarbeitern, durchaus fordernd uns gegenüber.

Sie haben keinen richtigen Einblick in die tägliche Arbeit ihrer ASD-Mitarbeiter und operieren aus dem Elfenbeinturm: Das hat Ihnen jüngst Christoph de Vries, Obmann der CDU-Fraktion im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss vorgeworfen, der die Hintergründe des tragischen Todes der dreijährigen Yagmur aufklären soll.

Scheele:

Rhetorik gehört zum politischen Geschäft. Ich weiß sehr gut, was die Kollegen bewegt. Von den 35 ASD-Abteilungen haben wir knapp die Hälfte besucht, etwa in Wilhelmsburg, Eimsbüttel, Jenfeld und Bergedorf. Staatsrat Jan Pörksen und ich besuchen die Abteilungen mit dem zuständigen Bezirksamtschef und Jugendamtsleiter. Wir sagen immer: Sagt uns, wo der Schuh drückt. Einen Tag nach der Vorlage des Berichts der Jugendhilfeinspektion zum Fall Yagmur waren wir durch Zufall beim ASD in Dulsberg und haben die Mitarbeiter gefragt, welche Erwartungen sie an unsere öffentlichen Äußerungen haben. Das war ein sehr offenes und gutes Gespräch.

Wie beurteilen Sie die jetzigen Arbeitsbedingungen der ASD-Beschäftigten?

Scheele:

Kein ASD ist wie der andere. Sie haben eine unterschiedliche Personalstruktur, eine unterschiedliche Zahl an erfahrenen Fachkräften und eine unterschiedliche Klientel. Ich sage überall und immer: Wenn es einen schweren Job in der Verwaltung gibt, dann ist der im ASD. Die Kombination aus Arbeitsbelastung und hoher Fallverantwortung ist etwas, was einen manchmal abends schlecht einschlafen lässt. Dagegen haben wir alle einen vergleichsweise leichten Job. Ich habe großen Respekt vor der Leistung dieser Kollegen. Aber nirgendwo in Deutschland verdienen ASD-Mitarbeiter so viel wie in Hamburg, und wir haben die Bezirke dazu verpflichtet, frei werdende Stellen unverzüglich neu zu besetzen. Als Chantal starb, waren rund 20 Prozent aller ASD-Stellen frei, Ende 2013 waren es nur noch drei Prozent.

Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung fordern die Jugendamtsmitarbeiter 65 zusätzliche Kollegen und eine Fallobergrenze von 28 Fällen.

Scheele:

Bei unserem Besuch beim ASD in Harburg haben wir das erste Mal über Fallzahlen gesprochen. Ich habe die Mitarbeiter gefragt, wie viele es sein sollen. Einer sagte 35, ein anderer 27. Am Ende des Gesprächs mussten wir alle einräumen, dass Fall nicht gleich Fall ist. Das ist unser zentrales Problem.

In Düsseldorf gibt es eine Fallobergrenze von 35.

Scheele:

Beim Düsseldorfer Standard werden die Fälle gezählt, in denen vom Amt eine Hilfe zur Erziehung bewilligt worden ist. Wenn wir diesen Maßstab auf Hamburg anwenden, hat jeder Mitarbeiter derzeit rund 29 Fälle.

Laut einer Senatsantwort musste ein ASD-Mitarbeiter vergangenes Jahr durchschnittlich 89 Fälle bearbeiten.

Scheele:

In dieser Zahl sind neben noch offenen auch abgeschlossene Fälle enthalten, die mit einer förmlichen Hilfe zur Erziehung verbunden sind. Außerdem sind alle Tätigkeiten drin, die – einfach gesagt – über ein Telefonat hinausgehen. Wir können uns jedoch nicht auf das Düsseldorfer Modell zurückziehen. Es gibt ja noch mehr Aufgaben für einen ASD-Mitarbeiter. Deshalb arbeiten die Bezirke mit unserer Unterstützung an einem Qualitätsmanagementsystem unter Mithilfe der ASD-Mitarbeiter als Experten in eigener Sache. Daran hat sich bislang noch niemand in Hamburg versucht. Die verschiedenen Arbeitsprozesse, etwa ein Hilfeplangespräch, eine Kindeswohlgefährdung oder Dienstbesprechungen, werden Schritt für Schritt zeitlich bewertet. Es geht darum, herauszufinden, welche Aufgaben wie viel Zeit und Aufwand bedeuten. Am Ende wird dann alles auf eine 38,5-Stunden-Woche runtergerechnet und dann das Personal berechnet, das nötig ist, um die Aufgaben zu erfüllen. Das Ergebnis wird 2015 erwartet.

Gibt es dann mehr Personal?

Scheele:

Wenn dabei herauskommt, dass der ASD zusätzliche Mitarbeiter braucht, gibt es mehr Stellen. Ja. Das habe ich den ASD-Mitarbeitern versprochen. Zudem klären wir jetzt mit den Bezirken, wie wir Pädagogen von Verwaltungsarbeiten entlasten können.

Viele ASD-Mitarbeiter fordern, dass die Jugendhilfeinspektion abgeschafft werden soll. Sie verstärke die Angst, etwas falsch zu entscheiden.

Scheele:

Sie ist eine unabhängige Institution, die einen ASD nach einem standardisierten Verfahren überprüfen soll. Das Verfahren wurde schon in Billstedt und Süderelbe ausprobiert, wobei man wissen muss, dass dieser Prozess sowohl wissenschaftlich als auch von ASD-Mitarbeitern und dem Personalrat begleitet wird. Die Art und Weise, wie die Jugendhilfeinspektion arbeitet, wurde im Februar auf einem gemeinsamen Fachtag diskutiert, zu dem jeder kommen konnte. Hier hat keine Kopfgeburt stattgefunden, denn ich bin ein Mitwirkungsfreund und die Jugendhilfeinspektion soll dem ASD helfen.

Kritiker bemängeln am Bericht der Jugendhilfeinspektion zum Fall Yagmur unangemessen scharfe Formulierungen sowie die Vermischung von Sachverhalten und Wertung.

Scheele:

Der Bericht ist schonungslos. Aber es ist richtig, dass wir ein solches Instrument haben. Denn es geht um die Kinder. Es soll doch sichergestellt werden, dass Schwachstellen gefunden werden. Der Bericht zeigt sehr deutlich, wo Fehler passiert sind. Dass das für einen ASD-Mitarbeiter unangenehm zu lesen ist, verstehe ich. Aber wer sagt, er will nicht mehr kontrolliert werden, setzt sich zumindest dem Vorwurf aus, dass er etwas verbergen will.

Die ASD-Mitarbeiter fordern auch, dass das 133,5 Millionen Euro teure Dokumentationssystem Jus-IT auf den Prüfstand oder abgeschafft werden soll. Es sei kompliziert, zeitraubend, fehlerbehaftet und diene zur Überwachung.

Scheele:

Zunächst mal: Jus-IT ist mehr als eine Software für den ASD. Da hängt etwa auch die Sozialhilfe dran. Ich stelle mich aber nicht hin und sage, Jus-IT ist das Beste, was man kriegen konnte. Als Chantal starb, dauerte die Aufklärung der Hintergründe deshalb so unendlich lang, weil die Papierakten unvollständig waren. Diejenigen, die Jus-IT nicht wollen, müssen beantworten, wie sie das System händisch verbessern wollen. Darauf werden Sie aber keine Antwort bekommen. Und was soll kommen, wenn Jus-IT abgeschafft wird? Man kann nicht bei Media Markt ins Regal greifen und hat eine neue Software.

Sind die Probleme bei Jus-IT behoben?

Scheele:

Nein. Als ich mein Amt angetreten habe, war die Einführung von Jus-IT bereits beschlossen. Wir haben uns dann entschieden, in den sauren Apfel zu beißen und das zu nehmen, was vorgegeben war. Wir haben alles getan, um das Ganze zu verbessern und Probleme zu beheben. Möglicherweise hat es in der Frühphase etwa den Fehler gegeben, dass die sozialpädagogische Diagnostik zu mächtig programmiert wurde. Wir reden deshalb zurzeit darüber, ob es wieder Jus-IT-Ansprechpartner in einzelnen ASD-Stellen geben soll. Und natürlich wird bei Jus-IT weiter nachgebessert. Ich bin der Letzte der sagt, alles ist super.