Nicht nur in Hamburg, auch in Bremen und Hessen debattieren Politiker, Sozialpädagogen und Wissenschaftler über junge Islamisten. Doch nur mühsam beginnt die Präventionsarbeit
Hamburg/Bremen. Was nach seiner Abreise blieb, sind digitale Schnipsel: Fotos, ein Eintrag bei Facebook, verlinkte Videos. Es ist erst einen Tag her, da schreibt Bilal S. auf seinem Profil bei Facebook: „Wisst, daß das diesseitige Leben doch nur Vergnügen, Ablenkung, Schmuck, Wichtigtuerei unter euch und Vermehrung an Vermögen und Kindern ist.“ Bilal S. zitiert eine Sure aus dem Koran. Eine Bekannte fragt: „Bilal?“ Sie will wissen, ob er es wirklich ist. Denn vor einigen Wochen ist Bilal S. verschwunden. Vielleicht nur in die Türkei, vielleicht kämpft er in Syrien an der Seite von militanten Gruppen einen „Heiligen Krieg“ gegen die Truppen des Diktators Baschar al-Assad. Die Spuren der Sicherheitsbehörden werden schwammig, sobald junge Männer aus Deutschland über die Grenze gereist sind. Sicher ist: Am 17. Februar bestieg S. ein Flugzeug der Turkish Airlines in Richtung Istanbul. Seiner Mutter hatte er kurz vorher noch eine SMS geschickt: Er übernachte bei einem Freund, lerne für die Abi-Prüfung.
Weit mehr als 300 Islamisten aus Deutschland, sagt der Verfassungsschutz, hätten sich bisher aufgemacht, um in Syrien zu kämpfen – auch in den Reihen von Organisationen, die als Terrorgruppen eingestuft werden. Kaum etwas bewegt junge Muslime so stark wie der Bürgerkrieg in Syrien. Bilder von zerstörten Städten, Millionen von Flüchtlingen. Und es sind Bilder, mit denen Kämpfer rekrutiert werden können. Die Reise in den Dschihad steht am Ende einer Radikalisierungsbiografie einzelner junger Muslime. Fünf junge Menschen haben sich aus Bremen seit Jahresbeginn auf den Weg gemacht. Aus Hamburg sollen es 25 Personen sein.
In den vergangenen Monaten sind in Städten wie Hamburg und Bremen, aber auch in anderen Bundesländern wie Hessen und Nordrhein-Westfalen, Gruppen von jungen Muslimen besonders in den Fokus geraten. Das Abendblatt berichtete über Einzelfälle von Drohungen gegen Mitschüler und auch Lehrer an Schulen. Auch der Verfassungsschutz in Hessen teilt dem Abendblatt mit: Es sei bekannt, dass „einzelne Salafisten sowie lose organisierte Kleingruppen durch das Verteilen des Korans auch an Schulen in Hessen für Ihre Ideologie werben“. In Nordrhein-Westfalen soll die Bewegung laut Bundesamt für Verfassungsschutz allein in diesem Jahr durch Werbung auf den Straßen und vor allem im Internet 300 neue Anhänger gewonnen haben. Was Hamburg erlebt, ist kein Einzelfall. Der Druck auf Bund, Kommunen, Politiker und Schulen wächst, mit Präventionsprojekten Jugendliche vor einer Radikalisierung zu schützen.
Die Sicherheitsbehörden nennen sie Salafisten – Muslime, die sich radikalisieren und einer besonders strengen Auslegung des Islam anschließen. Sie selbst nennen sich „Salafiyya“, die Anhänger der Altvorderen. In ihrer fundamentalen Auslegung des Islam gilt das Geschriebene im Koran, sie dulden keine modernen Interpretationen der Heiligen Schrift, wie es die allermeisten aller Muslime in Deutschland praktizieren. Wer ein gutes Leben im Sinne der Salafisten führt, kommt ins Paradies. Anderen droht die Hölle. Für einige von ihnen liegt der Kampf in Syrien auf dem Weg ins Paradies.
Für viele Islamismus-Experten ist der Salafismus eine Jugendbewegung. „Das hat nichts mit Religion zu tun, das ist jugendlicher Pop-Dschihadismus“, sagte Claudia Dantschke am Donnerstag auf einer Podiumsdiskussion des Hamburger Verfassungsschutzes in der Finanzbehörde. Dantschke leitet die Beratungsstelle „Hayat“ in Berlin, finanziert vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Bei der Debatte, zu der neben dem Vertreter der Islamischen Gemeinschaft in Hamburg auch Sozialarbeiter und Wissenschaftler eingeladen waren, ging es um Wege der Prävention. Alle Beteiligten hoben hervor, dass Salafismus kein Problem ausschließlich von Muslimen sei. Der Verfassungsschutz nennt die Zahl der deutschen Konfertiten „erheblich“. Auch viele Abiturienten und sogar Studenten würden sich der Bewegung anschließen.
Islamwissenschaftlerin Irmgard Schrand vom Landeskriminalamt hebt hervor: „Wir erleben das Wachsen gesellschaftlicher und politischer Kräfte.“ Vor allem für junge Männer gehe es aber auch um Identitätsfindung. „Sie grenzen sich mit dem Bild des Kriegers von dem klassischen Frauenbild ab.“ Obwohl die Behörden konkrete Zahlen präsentieren, herrscht doch bei Islam-Experten, an Schulen und selbst Sicherheitsbehörden Unkenntnis über die genaue Zahl der Aktivisten und deren Präsenz an Schulen oder in einzelnen Stadtteilen. Vieles bleibt im Dunklen, vieles ist jugendliche Subkultur. Und auch der Verfassungsschutz muss sich erst an das neue „selbstbewusste Auftreten“ und einen Islamismus, der „öffentlich wahrnehmbar“ ist, gewöhnen.
Islam-Experten wie Dantschke warnen, dass man Familien und Schulen jetzt nicht allein lassen dürfe. Wer mit Akteuren von Präventionsprojekten spricht, hört derzeit die Sorge, dass Geld fehle und Maßnahmen eingestellt werden. Noch bis 2013 finanzierte der Bund mit mehreren Millionen Euro Projekte in ganz Deutschland im Rahmen des Programms „Demokratie stärken“. Nun lief die Förderung aus. „Die Länder finanzieren diese Projekte selten weiter“, sagt Dantschke. Die neue Koalition in Berlin hat bisher kein neues Geld bereitgestellt. Auch Mitarbeiter von einem Projekt der HAW Hamburg und dem Verein Ufuk stehen derzeit vor der Frage, ob sie überhaupt weiterhin Aufklärungsfilme an Schulen zeigen können.
NRW-Innenminister Ralf Jäger ist nun in die Offensive gegangen. Er stellte unlängst das Programm „Wegweiser“ vor. In Düsseldorf eröffnet eine Beratungsstelle, um den Einstieg junger Muslime in eine radikale Szene zu verhindern. Nicht nur den betroffenen Jugendlichen selbst, sondern auch Eltern, Freunden oder Lehrern sollen dabei Ansprechpartner zur Seite gestellt werden. Experten loben einerseits die Zusammenarbeit des Innenministeriums mit Vereinen, Sozialverbänden, Moscheen und Familienberatungen. Gleichzeitig kritisiert Dantschke, dass viele Jugendliche und deren Familien mit Jägers Projekt nicht erreicht würden. „Programme mit dem Verfassungsschutz erzeugen bei der Zielgruppe wenig Vertrauen.“ Vor allem nach dem Versagen der Sicherheitsbehörden in der rechtsterroristischen NSU-Mordserie haben viele Muslime das Vertrauen in staatliche Stellen verloren.
Nach Informationen des Abendblatt liegen auch in Hamburg bereits seit mehreren Monaten Pläne der Innenbehörde und des Verfassungsschutzes vor, eine Beratungsstelle gegen Islamismus einzurichten. Ähnlich wie diese bereits gegen Rechtsextremismus existiert. Hier soll die Federführung bei der Sozialbehörde liegen. Offenbar laufen die Gespräche schon länger – auch mit den Hamburger Gemeinden der Muslime. Bisher gibt es noch keine konkreten Vorschläge von Seiten der beteiligten Behörden.
Und die Zeit drängt. Von den etwa 25 Jugendlichen, die sich von Hamburg in Richtung Syrien aufgemacht haben, weiß die Behörde von mindestens zehn Personen, die tatsächlich in dem Kriegsgebiet angekommen sind. Zwei von ihnen sind bereits tot.