Beim Volksentscheid zum Netze-Rückkauf tun sich Gräben auf. Eine Analyse
Hamburg. Die Weisheit ist 2700 Jahre alt und wird bis heute zitiert. „Die Hälfte ist manchmal mehr als das Ganze“, wusste Hesiod, ein griechischer Schäfer und Dichter. Spätestens in der Neuzeit reifte die Erkenntnis, dass der Kompromiss trotz seines schlechten Rufes oftmals ein Königsweg der Demokratie sein kann. Bei Volksentscheiden sind Kompromisse nicht vorgesehen, so knapp der Ausgang auch ist. Hier gilt schwarz oder weiß, Kopf oder Zahl, ja oder nein.
Nach dem noch vorläufigen Endergebnis erforderte der Volksentscheid über die Hamburger Strom-, Fernwärme- und Gasleitungsnetze fast ein Zielfoto: 50,9 Prozent der Wähler möchten die Netze zukünftig wieder in öffentlicher Hand sehen, 49,1 Prozent sind dagegen. Auffällig ist die hohe Zahl ungültiger Stimmen, die um rund 45 Prozent höher lag als bei der zeitgleich stattfindenden Bundestagswahl. 15.340 Hamburger sahen sich außerstande, mit Ja oder Nein zu stimmen – allein diese Zahl hätte schon ausgereicht, um das Ja zu kippen. Denn mit 440.690 Stimmen lagen die Befürworter nur 15.244 Stimmen vor den Gegnern.
Hamburg ist in der Frage über den Sinn des Netzerückkaufs tief gespalten; so tief, dass jeder kluge Regierungschef vermutlich nach einem Kompromiss suchen würde. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass am Sonntag ein Kompromiss verloren hat. Als die Umweltschutzorganisation BUND, die Verbraucherzentrale und Teile der Kirche die Initiative „Unser Hamburg – unser Netz“ auf den Weg brachten, lautete die Gegenposition, alles wie bisher in privaten Händen von Vattenfall und E.on zu belassen. Bürgermeister Olaf Scholz hoffte, mit dem Kauf einer Minderheitsbeteiligung von 25,1 Prozent an den Netzen inklusive Garantiedividende und Investitionszusagen der Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zugleich versammelten sich die Gegner jeder Rekommunalisierung aus Wirtschaft und Kammern in einer Nein-Bewegung. Das macht den Sieg der Initiative auf den ersten Blick noch größer. Doch die Volksabstimmung vom Sonntag offenbart zugleich die Schwächen der direkten Demokratie insgesamt.
Die Vorlage, über die alle Wähler zu befinden hatten, nannte als verbindliches Ziel „eine sozial gerechte, klimaverträgliche und demokratisch kontrollierte Energieversorgung aus erneuerbaren Energien“. Selten passte der sperrige Begriff „Wortmacht“ so genau: Wer kann da schon dagegen sein? Sozial gerecht, ökologisch und demokratisch klingt gut – doch der Rückkauf der Verteilnetze für Strom, Gas und Fernwärme ist komplexer.
Leider kam diese Komplexität weder im hochemotionalen Wahlkampf der vergangenen Wochen noch in den Informationsbroschüren zum Tragen. Am Ende blieb eine zur Karikatur reduzierte Debatte, in der sich Stimmungen rasch in Stimmen verwandelten – die Vorbehalte gegen den Energieversorger Vattenfall vermengten sich mit dem Drang, Denkzettel zu verteilen, und der Sehnsucht nach einer heilen Welt der „Daseinsvorsorge“. Dieses Ergebnis spiegelt sich in den Stadtteilen: In Vierteln, die eher sozial schwach sind und von Sozialtransfers abhängig, kommt die Initiative auf hohe Zustimmungsraten, in den bürgerlichen Vierteln mit hohem Durchschnittseinkommen hingegen sinkt der Anteil der Ja-Stimmen rapide: Während auf der Veddel 73,1 Prozent und auf St. Pauli sogar 78,1 Prozent für den Rückkauf der Netze stimmten, waren es in Wellingsbüttel oder Lemsahl-Mellingstedt nur 35,1 beziehungsweise 36,2 Prozent. Was als Daseinsvorsorge in einzelnen Stadtteilen wie eine Verheißung klingt, verbinden andere mit Milliardenlasten, die zu Steuerlasten werden könnten. Immerhin zeigt sich, dass direkte Demokratie durchaus zum Instrument der Schwächeren werden kann – die Abstimmung über die Primarschule 2010 war noch als „Sieg der Besserverdiener“ tituliert worden.
Extrem auffällig ist die Trennung in ein ländlich-bürgerliches Hamburg und die urbane City. Mit Ausnahme der Uhlenhorst, der HafenCity und Harvestehude ist die gesamte Innenstadt auf Ja-Kurs – die Elbvororte, die Walddörfer, Vier- und Marschlande und das Alstertal stimmten geschlossen dagegen. Die In-Viertel, die unter Gentrifizierungsverdacht stehen, haben mit überwältigender Mehrheit für den Rückkauf der Energie-Infrastruktur votiert. In Ottensen stimmten 68,8 Prozent mit Ja, in St. Georg 63 Prozent. Gerade in den Hochburgen der Grünen und Linken landete die Netze-Initiative einen Kantersieg. Die Bewohner der Schanze stimmten zu 79,4 Prozent für den Rückkauf, zeitgleich gewannen die Grünen hier bei der Bundestagswahl 27,1 und die Linkspartei 24,4 Prozent; in Altona-Nord votierten 72,6 Prozent für die Initiative und 24,2 Prozent beziehungsweise 18,8 Prozent für Grüne und Linke.
Im gesamten Stadtgebiet zeigt sich zugleich, dass Olaf Scholz seine eigene Anhängerschaft nur unzureichend auf ein „Nein“ einschwören konnte – hamburgweit kommen die Befürworter auf viel mehr Stimmen, als die beiden kleinen Unterstützerparteien auf sich vereinten. Grüne und Linke errangen zusammen 21,4 Prozent bei der Bundestagswahl, die erklärten Gegner des Rückkaufs aus SPD, CDU und FDP hingegen fast 70 Prozent.
Der Bürgermeister hat den Volksentscheid vor allem in den SPD-Hochburgen verloren. Die fünf Stadtteile Steilshoop, Billstedt, Lurup, Wilstorf und Wilhelmsburg etwa, in denen die Sozialdemokraten auf über 40 Prozent kamen, gingen zum Teil klar an die Initiative verloren. Ganz anders sieht es in den größten Hochburgen der CDU aus: Die Bürger aus Tatenberg, Reitbrook, Francop, Nienstedten und Blankenese lehnten teilweise mit Zweidrittelmehrheit einen Rückkauf der Netze ab.