Ausnahmeregelung für je eine Schule in jedem Bezirk gefordert. Debatte über Länge der Schulzeit in der Bürgerschaft. Vor zwei Wochen hatten Eltern die Volksinitiative “G9-Jetzt-HH“ gestartet.

Hamburg. Der Vorschlag wäre beinahe unbemerkt geblieben, aber er kann in der schulpolitischen Debatte der kommenden Monate enorme Sprengkraft entfalten. "Es könnte eine wirklich gute Idee sein, ein paar Ausnahmen für G9 an Gymnasien zuzulassen", sagte die Grünen-Schulpolitikerin Stefanie von Berg in der Aktuellen Stunde der Bürgerschaft. Hamburg brauche zwar keine neue Debatte über die Schulstruktur, aber so könne erprobt werden, wie sich das Nebeneinander von G9 und G8, das sogenannte Turbo-Abitur, bewährt.

Mit diesem Vorschlag - gedacht ist an einen G9-Standort pro Bezirk - brechen die Grünen aus der Phalanx der Bürgerschaftsfraktionen und Parteien aus, die bislang alle bis auf die Linken die Volksinitiative zur Wiedereinführung von G9 an den Gymnasien kategorisch ablehnen.

Vor zwei Wochen hatten engagierte Eltern die Volksinitiative "G9-Jetzt-HH" gestartet, die zum Ziel hat, die Wahlfreiheit zwischen dem Abitur nach acht und nach neun Jahren am Gymnasium einzuführen. Zurzeit legen die Gymnasiasten in Hamburg die Reifeprüfung nach acht Jahren, an den Stadtteilschulen nach neun Jahren ab.

Auch wenn Politiker in der Sache weitgehend einer Meinung sind, hindert sie das nicht, sich gegenseitig heftige Schuldvorwürfe zu machen. So war es auch in der Aktuellen Stunde. "Vernachlässigte Stadtteilschulen: Schulsenator Rabe befeuert die Schulstrukturdiskussion", hatte die FDP-Opposition als Topthema der Aktuellen Stunde angemeldet und damit die Richtung vorgegeben. "Die zweite Säule unseres Schulsystems wackelt", sagte die FDP-Schulpolitikerin Anna von Treuenfels und meinte damit die Stadtteilschulen. "G9 an den Stadtteilschulen ist für Eltern bislang keine Alternative", so die Liberale. Nur neun Prozent der Kinder, die für diese Schulform angemeldet würden, hätten eine Gymnasialempfehlung. "Für Schüler mit dem Ziel Abitur sind die Stadtteilschulen nicht attraktiv genug." Schuld daran sei die SPD-Schulpolitik, die zu wenig zur Stärkung der neuen Schulform tue. So seien die Schulen mit der Inklusion förderbedürftiger Schüler überfordert, unter anderem weil Schulsenator Ties Rabe (SPD) zusätzliche Ressourcen "mit der Gießkanne" verteile.

Indirekt sei Rabe dafür verantwortlich, dass Eltern jetzt in einer Volksinitiative G9 auch an Gymnasien fordern. "Machen Sie die Stadtteilschulen endlich zur Chefasche. Das Aussitzen von Problemen akzeptieren wir nicht", appellierte von Treuenfels an den Senator. Ganz anders fiel die Reaktion von SPD und CDU aus, die eher darauf setzten, das Thema G9 an Gymnasien zu ignorieren. "Ich habe nicht den Eindruck, dass wir eine Schulstrukturdebatte in der Stadt führen", sagte die CDU-Schulpolitikerin Karin Prien. Eltern, Lehrer und Schüler seien müde, ständig über neue Reformen zu reden. "Außerdem sind die Anmeldezahlen der Stadtteilschulen stabil. Das wirkt nicht so, als ob sie vor dem Scheitern stehen", so Prien.

"Ich habe eine große Bitte an alle Schulpolitiker: Wir müssen endlich aufhören, die Stadtteilschule schlechtzureden", sagte Lars Holster, der schulpolitische Sprecher der SPD. Im Gegensatz zum Gymnasium, das es seit 300 Jahren gebe, habe die Stadtteilschule bislang nur drei Jahre Zeit gehabt, sich zu beweisen. "Und sie hat beachtliche Erfolge vorzuweisen", so Holster. Die Zahl der Abiturienten wachse zum Beispiel von Jahr zu Jahr.

"Totschweigen ist das Allerdümmste", konterte Anna von Treuenfels. Walter Scheuerl, parteiloses Mitglied der CDU-Fraktion und Primarschul-Verhinderer, kritisierte die Politiker, die den "Traum des Abiturs für alle" hegten. "Man kann an den Stadtteilschulen Abitur machen, aber es ist nicht damit getan, dass die anderen Schüler so durchlaufen und dann in einem Berufseingliederungsprogramm landen, weil sie keinen Ausbildungsplatz bekommen", sagte Scheuerl. "Das ist eine Denunzierung der Lehrer an den Stadtteilschulen und ihrer Arbeit", empörte sich SPD-Mann Holster unter dem donnernden Beifall seiner Parteifreunde. "Die Wahrheit hört keiner gern", gab Scheuerl trocken zurück.

Rabe listete die Investitionen des Senats in die Stadtteilschulen auf - vom Aufbau der Oberstufen bis zur Umstellung auf den Ganztagsunterricht. Die G9-Initiative erwähnte der Senator mit keinem Wort. Dafür nahm er sich indirekt Walter Scheuerl vor. "Die Stadtteilschule ist nicht eigentlich eine Haupt- und Realschule, sondern sie ist das Versprechen, mit mehr Bildung voranzukommen", sagte Rabe. Es könnten mehr Menschen das Abitur schaffen, "als wir jetzt glauben". An den Stadtteilschulen sei "Aufstieg durch Bildung" möglich, so Rabes leidenschaftliches Plädoyer.

Linken-Fraktionschefin Dora Heyenn kritisierte, dass die Berufsorientierung an den Stadtteilschulen vernachlässigt werde. Nur 17 Prozent der Schulabgänger erhielten einen Ausbildungsplatz. "Diese Schulform ist zu sehr belastet und über Gebühr gefordert - zum Beispiel auch durch die Inklusion", sagte Heyenn.

Den Vorschlag der Grünen-Schulpolitikerin Stefanie von Berg, G9 in Ausnahmefällen am Gymnasium zuzulassen, griff niemand auf. Dieses Eisen war dann wohl noch zu heiß.