Gericht kann den Angeklagten einen versuchten Totschlag nicht nachweisen
Ein Baby ist tot und seine Mutter auf freiem Fuß. Fluchtartig verlässt Jessica R. den Gerichtssaal, wie schon am ersten Verhandlungstag verbirgt sie ihr Gesicht unter einer Kapuze. Sie hastet zum Aufzug, raus aus dem Landgericht. Dort zeigt sie zwei erhobene Mittelfinger mit pink lackierten Fingernägeln.
Die hilflose Geste einer Hilflosen. Einer überforderten, jungen Frau, die ihr eigenes Kind "böswillig misshandelt" hat, wie das Landgericht am Freitag urteilt. Ihre zwei Schwestern verfolgen sie nach unten. Sie wollen mit ihr reden, ihr sagen, was sie von dem Strafmaß halten - "rein gar nichts".
Das Gericht verurteilt Jessica R., 19, zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, ihren Ex-Freund Daniel C., 22, zu einer Jugendstrafe von neun Monaten. Beide Strafen sind zur Bewährung ausgesetzt. Nach Feststellung der Kammer hat sich Jessica R. unter anderem der Misshandlung einer Schutzbefohlenen, Daniel C. der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht.
Die Schutzbefohlene ist das schutzlose Baby: Lara-Mia. Sie starb im Alter von nur neun Monaten und wog mit 4,8 Kilo nicht mal die Hälfte dessen, was ein Kind dieses Alters wiegen sollte. Am Morgen des 11. März 2009 hatte Jessica R. ihre Tochter tot aufgefunden, im Kinderzimmer ihrer Wilhelmsburger Wohnung, wo sie mit Daniel C. lebte. Der Tod des Babys könne ihnen jedoch nicht zugerechnet werden, so die Kammer: Auch wenn Lara-Mia kurz vor dem Hungertod stand - ein plötzlicher Kindstod lasse sich als Todesursache nicht ausschließen. Zudem seien die Angeklagten vom versuchten Totschlag strafbefreiend zurückgetreten, indem sie beim Auffinden des toten Kindes sofort Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet hätten.
Von Beginn an sei Jessica R. als Mutter indes eine Fehlbesetzung gewesen. "Das Baby hatte vor allem eine Funktion: die Angeklagte zu versorgen." Mit einer Schwangerschaft habe die in prekären Verhältnissen groß gewordene Jessica R. sich vor Schule und Arbeit drücken wollen. Zudem sollte das Kind ihre Einnahmen sichern. "Die Angeklagten wollten ihre Interessen nachgehen: chillen, Partys, fernsehen, Drogen", so der Richter. Stunden nach ihrem Tod habe Jessica R. ihrer Mutter gesagt: "Lara ist verhungert. Jetzt fehlen mir 500 Euro im Monat."
Lara-Mias Martyrium dauerte Monate. Es begann, so das Gericht, mit der Umstellung auf feste Babynahrung, etwa im August 2008. Beide Angeklagten hätten seitdem nicht die Geduld aufgebracht, das Mädchen zu füttern. Zum Kinderarzt seien sie auch nicht gegangen - zunächst aus Nachlässigkeit, ab Februar 2009, um Lara-Mias immer dramatischeren Zustand zu verheimlichen. Jessica R. fürchtete, so die Kammer, das Jugendamt werde die Kleine in Obhut nehmen, wenn die Unterernährung bekannt würde. Denn dann hätte sie ihr Scheitern als Mutter eingestehen müssen. Fatal auch: Ihrem Freund Daniel fehlte aus Angst vor dem Ende der Beziehung der Mut, mit dem Kind allein zum Arzt zu gehen. Der 22-Jährige, in ähnlich schwierigen Verhältnissen aufgewachsen wie seine Freundin, habe sich nach einer Familie gesehnt. "Projekt Familie spielen", nennt das der Richter und sagt: "Sehr unreif, alles." Vor allem Jessica R. bekommt harte Worte zu hören: Sie habe gelogen und manipuliert, sagt der Richter. Sogar eine erfahrene Sozialarbeiterin habe die 19-Jährige hinters Licht geführt - Marianne K., eine Sozialpädagogin des Rauhen Hauses, die als Betreuerin für Jessica R. eingesetzt worden war. Wenige Tage vor dem Tod von Lara-Mia hatte sie das Kind noch für gesund befunden, im Dezember hielt sie das sichtlich abgemagerte Baby auf dem Arm.
"Für jeden Laien war Lara ein Notfall", sagt der Richter. Bald wird sich Marianne K. wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen verantworten müssen. Auch die Behörden hätten versagt. "Es wurde eher an Hilfe als an Kontrolle gedacht, das war ein Fehler." Für die Anklage, die eine Haftstrafe für Jessica R. gefordert hatte, ist der Fall nicht beendet. Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers. "Wir überlegen, ob wir in Revision gehen."