Nach der tödlichen Messerattacke auf den 19 Jahre alten Mel D. fing die Woche für den schwarz-grünen Senat schlecht an.
Hamburg. Die Woche fing schlecht an für den schwarz-grünen Senat. Zwar konnte die Polizei nach der tödlichen Messerattacke auf den 19 Jahre alten Mel D. schnell vier Tatverdächtige festnehmen. Aber mit dem 16 Jahre alten mutmaßlichen Haupttäter Elias A. hatte die Koalition sofort ein Riesenproblem am Hals: Ein minderjähriger Intensivtäter, gegen den 20 Ermittlungsverfahren liefen, ohne dass ein einziges zu einer Verurteilung geführt hätte, sticht aus nichtigem Anlass ("Was guckst du?") einen Menschen nieder. Mehr noch: Die Tat geschieht nicht auf dem Kiez, nicht in Billstedt, sondern dort, wo Hamburg sich gern etwas selbstverliebt betrachtet: mitten in der Stadt am Jungfernstieg, genauer gesagt im Bahnhof darunter.
Fälle wie dieser machen fassungslos und sind geeignet, das Vertrauen der Menschen in die öffentliche Sicherheit dauerhaft zu erschüttern. Deswegen war und ist für den Senat Gefahr in Verzug. Warum gelingt es der Politik nicht, eine solche "tickende Zeitbombe" - die ersten Taten beging Elias A. als Zehnjähriger - in den Griff zu bekommen?
Als Erster ergriff Sozialsenator Dietrich Wersich, zuständig auch für die Bereiche Jugend und Familie, die Initiative. Der CDU-Politiker regte am Montag, wenige Stunden nach den Festnahmen, ein konzertiertes Vorgehen aller Senatoren an, deren Behörden mit dem Fall Elias A. in Berührung gekommen sind: außer Wersich Justizsenator Till Steffen (GAL), Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU) und Schulsenatorin Christa Goetsch (GAL). Vor allem Steffen dürfte sich über das solidarische Angebot gefreut haben, schließlich sah er als Verantwortlicher für die Gerichte den meisten Ärger auf sich zukommen.
Tatsächlich verständigte sich das Quartett auf eine gemeinsame Erklärung, die abends verschickt wurde. Obwohl es "weder absolute Sicherheit noch hundertprozentige Wirksamkeit von Maßnahmen" geben könne, teilten die Senatoren mit, "muss diese Straftat Anlass für eine kritische und konsequente Analyse sein". Eine Arbeitsgruppe mit Vertretern der vier Behörden wurde beauftragt, "das Fallgeschehen gemeinsam aufzuarbeiten". Im Mittelpunkt sollen dabei "die individuellen, familiären und strafrechtlichen Vorgeschichten der Jugendlichen sowie die staatlichen Maßnahmen" stehen. Eigentlich alles Selbstverständlichkeiten nach einer solchen Tat.
Politisch betrachtet dient das Vorgehen zwei Zielen: Einmal geht es darum, Zeit zu gewinnen. Zum anderen soll so verhindert werden, dass ein Senator dem anderen die Schuld in die Schuhe schiebt, um den eigenen Laden aus der Schusslinie zu nehmen. Dieses in der Politik doch sehr verbreitete Vorgehen kann schnell zu einer vergifteten Atmosphäre führen und die Einigung auf einen Katalog von Konsequenzen aus der Ermordung von Mel D. erschweren. Die Gefahr ist im vorliegenden Fall besonders groß, weil je zwei der vier Senatoren der GAL und der CDU mit ihren recht unterschiedlichen Vorstellungen von innerer Sicherheit angehören.
Der Plan, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, hielt nicht einmal 24 Stunden. Da nutzte Innensenator Ahlhaus die erstbeste Gelegenheit, um klarzustellen, dass "seine" Polizei jedenfalls keine Fehler gemacht habe. Er verstehe nicht, warum einer wie Elias A. angesichts der schweren früheren Straftaten "nicht längst hinter Schloss und Riegel" sitze. Damit lag der Ball im Feld von Justizsenator Steffen. Nicht gerade fein, aber so ist Politik eben.
Steffens Retourkutsche ließ nicht lange auf sich warten. Ahlhaus' Kritik gehe fehl, so der GAL-Politiker, weil bei keinem der Strafvorwürfe gegen Elias A. mit einer Haftstrafe ("Schloss und Riegel") zu rechnen gewesen sei. Steffen vergaß auch nicht zu erwähnen, dass der Staatsanwaltschaft bei acht der 20 Straftaten von Elias A. die Ermittlungen der Polizei nicht ausreichten, um Anklage zu erheben. Fast zwei Jahre lang war das schwarz-grüne Koalitionsklima von gegenseitigem Respekt geprägt und weitgehend frei von Attacken durch Heckenschützen der einen oder anderen Seite. Angesichts der zahlreichen Kalamitäten - von der Schulreform bis hin zur Kostenexplosion bei der Elbphilharmonie - scheint der Ton bei Schwarz-Grün nun rauer zu werden.
Einer schwieg in dieser Woche komplett zum Thema: Bürgermeister Ole von Beust. Dabei liegt dem Christdemokraten der entschlossene Umgang des Staates mit gewalttätigen Jugendlichen schon lange am Herzen. Als Oppositionspolitiker erlebte von Beust im Juni 1998 den Mord zweier 16-jähriger Intensivtäter an dem 73 Jahre alten Lebensmittelhändler Willi Dabelstein in Tonndorf. Die Parallelen zu Elias A. sind verblüffend. Auch damals lautete die Frage: Wieso konnten die beiden Jugendlichen angesichts ihrer Vortaten frei herumlaufen?
Der damalige rot-grüne Senat mit Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) geriet in Erklärungsnot, weil die Betreuung in der Jugendwohnung, in der die beiden Dabelstein-Mörder untergebracht waren, höchst lückenhaft war. Oppositionschef von Beust erhöhte damals den öffentlichen Druck, indem er sagte, Schulsenatorin Rosemarie Raab und Justizsenatorin Lore-Maria Peschel-Gutzeit (beide SPD) trügen "persönliche Verantwortung", wenn sich ein Fall Dabelstein wiederhole. Das war schon ein starkes Kaliber.
Die CDU sah damals das Allheilmittel in geschlossenen Heimen. Einmal an der Macht,machten die Christdemokraten ihre Ankündigung 2003 auch wahr. Doch mit welch ernüchterndem Ergebnis? Das geschlossene Heim Feuerbergstraße funktionierte nie richtig, war von Skandalen erschüttert und wurde schließlich mit dem schwarz-grünen Koalitionsvertrag wieder aufgegeben.
Übrigens: Von der heutigen Oppositionspartei SPD hört man vergleichbar schrille Töne wie damals von von Beust nicht. Die Sozialdemokraten widerstehen billigem Populismus sicherlich auch, weil sie selbst gebrannte Kinder sind - siehe Dabelstein. Wer ehrlich ist, der gesteht ohnehin eine gewisse Ratlosigkeit mit dem Problem extrem gewaltbereiter Jugendlicher ein.
Was wird am Ende als Konsequenz aus dem tödlichen Messerangriff auf Mel D. passieren? Staatliche Intensivtäter-Programme wie Protäkt oder PriJus müssen verbessert werden. Es reicht nicht, dass die sogenannte "Manndeckung" der "tickenden Zeitbomben" durch Polizei und Sozialarbeiter in 80, 90 Prozent der Fälle funktioniert.