Der Traumatherapeut Andreas Krüger über die Möglichkeiten, ein grausames Erlebnis zu verarbeiten

Sie haben die blutige Tat mit angesehen. Und sind schwer traumatisiert. Nach der Messerattacke am Jungfernstieg, bei der der 19 Jahre alte Mel D. starb, müssen seine Freunde lernen, mit dem schrecklichen Ereignis zu leben. Das geht manchmal nur mit professioneller Hilfe, weiß der Hamburger Traumatherapeut Andreas Krüger.

Hamburger Abendblatt:

Herr Dr. Krüger, die tödliche Messerattacke am Bahnhof Jungfernstieg hat auch Spuren bei den Freunden des Opfers hinterlassen. Einige mussten mit ansehen, wie ihr Freund erstochen wurde. Was hat das für Folgen?

Andreas Krüger:

Die entscheidende Frage ist, ob die betroffenen Jugendlichen traumatisiert sind. Zu einer psychischen Traumatisierung kommt es, wenn das Ereignis die psychischen Belastungsgrenzen des Individuums übersteigt und nicht adäquat verarbeitet werden kann.

Woran erkennen Betroffene bzw. Angehörige, ob ein Trauma vorliegt?

Ein traumatisierter Mensch leidet unter Schlaf- und Konzentrationsstörungen, körperlichen Unruhezuständen und horrorfilmartigen Erinnerungen, sogenannten Flashbacks. Es genügt ein Hinweisreiz, in diesem Fall das Geräusch einer heranfahrenden U-Bahn, und der Betroffene wird plötzlich von diesem vernichtenden Erinnerungsmoment überrollt.

Wie sollten Betroffene reagieren?

Die Eltern der betroffenen Jugendlichen sollten erst mal Körper, Geist und Seele versorgen. Das heißt, ihr Kind richtig ausschlafen lassen, ihm etwas Schönes kochen, Stress vermeiden und natürlich trösten. Sie sollten den Betroffenen nicht dazu nötigen, über das Ereignis zu sprechen, aber das Gefühl vermitteln: "Wenn du möchtest, können wir jederzeit darüber reden." In Gesprächen wird dann schnell deutlich, ob es quälende Erinnerungen gibt. Sind diese verbunden mit Zittern, starrem leeren Blick oder Schweißausbrüchen, braucht das Kind unbedingt die professionelle Hilfe eines Traumatherapeuten.

Wie können sich Betroffene vor Flashbacks schützen?

Zunächst einmal sollten Hinweisreize vermieden werden. Ein Jugendlicher, der den Überfall am Bahnhof miterlebt hat, sollte diesen Ort meiden. Auch Geräusche können die Blitzbilder im Gehirn auslösen. Wichtig ist, dass die Betroffenen lernen, eigene Stresssituationen zu regulieren. Dabei kann ein Therapeut helfen.

Wie sieht die Hilfe konkret aus?

Der Therapeut versucht gemeinsam mit dem Patienten, einen sicheren inneren Ort zu schaffen, ein konstruktives Gegenbild zu den Horrorszenarien. Über seine Fantasie soll der Betroffene an einen sicheren Ort geführt werden, wo es keine Ohnmacht, keine Angst gibt. Gleich einer Art Gehirnjogging ist es möglich, das Gehirn umzuprogrammieren. Ein Gedanke muss tausendmal gedacht werden, bis er in Fleisch und Blut übergeht. Die guten Vorstellungen müssen sich im Gehirn etablieren. Dann kann man erfolgreich damit arbeiten.

Wo finden traumatisierte Menschen und ihre Angehörigen Hilfe?

Es gibt im UKE eine Trauma-Ambulanz, die ich selbst viele Jahre geleitet habe. Dort finden Betroffene Rat und therapeutische Hilfe. Was in Hamburg fehlt, ist ein Therapiezentrum für Kinder, Jugendliche, Therapeuten und Betreuer. Diese Lücke wollen wir mit "Ankerland" ( www.ankerland.org ) schließen. Zum einen durch die Schaffung eines sicheren Ortes, einer Art "Villa Kunterbunt", die aus ärztlicher Sicht ein effizient arbeitendes Therapiezentrum sein sollte. Zum anderen durch die Pflege eines Netzwerks aller im Kontext der Traumatherapie relevanten Berufsgruppen: Polizei, Rettungswesen, Krisenhilfe, Opferhilfe bis zu Sozial- und Schulbehörde sowie Opferhilfestellen. Das Netzwerk ist geknüpft. Jetzt fehlen noch die passenden Räume.