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Konzentriert blickt Tobias Tietchen durch seine runde Brille und fährt routiniert mit der Tätowiermaschine über die Haut. Zwischendurch setzt er ab, wischt überschüssige Farbe vom Oberarm und tunkt die Nadel in eines der kleinen Farbtöpfchen in Grautönen neben sich. Der Arm gehört Anika Hamacher. Sie ist Kundin im Atelier Tietchen, einem Tattoo-Studio in Barmbek.
Mit übereinandergeschlagenen Beinen liegt sie auf der Liege. Sie hat es sich bequem gemacht. Nur ihr Gesicht ist leicht angespannt. Das Atelier hat Wohnzimmeratmosphäre. Es ist lichtdurchflutet und detailverliebt gestaltet – mit Grünpflanzen auf Fensterbänken, Cocktailsesseln und Tattoo-Zeichnungen an den Wänden. Allein das Surren der Tätowiermaschine erinnert daran, dass es hier unter die Haut geht.
Tattoos, die an geliebte Menschen erinnern
Seit sechs Jahren betreiben Tobias Tietchen und seine Frau Sarah-Ann Tietchen, die ebenfalls Tätowiererin ist, ihr Atelier. Auf eine persönliche Atmosphäre legen die beiden wert, nicht nur bei der Raumgestaltung. „Wir nehmen uns viel Zeit für unsere Kunden“, sagt der 33-Jährige. „Eine eingehende Beratung ist uns wichtig“. Der studierte Grafikdesigner mag den direkten Kontakt zu den Kunden. Das hat ihm in seinem vorherigen Berufsfeld gefehlt.
Die Vorstellungen und Wünsche der Kundschaft sind ganz unterschiedlich. „Es ist nicht selten, dass Motive an geliebte Menschen erinnern“, erzählt Sarah-Ann Tietchen. „Das kann die Kaffeekanne der verstorbenen Oma sein oder eine Vase mit ihrer Lieblingsblume. Die Motive haben immer etwas mit der Persönlichkeit der Menschen zu tun.“
Sie stehen für Hobbys, Lieblingsvereine oder Heimatverbundenheit. Sie erinnern an bestimmte Lebensabschnitte, an einen Urlaub, die Geburt des Kindes, den Heiratsantrag oder an Durch- und Erlebtes. Für eine Kundin hat Sarah-Ann Tietchen (35) einmal einen Krebs mit Boxhandschuhen entworfen. Die Frau hatte ihren Brustkrebs besiegt. „Tattoos sind quasi das eigene Leben in Bildern“, ergänzt Tobias, „ein visuelles Tagebuch“.
Sechs Stunden auf dem Tätowierstuhl
Anika Hamacher ist zum siebten Mal hier. Ihre Beine und ihr linker Arm sind schon großflächig tätowiert. Heute beginnt Tobias Tietchen auf dem rechten Oberarm. Das Motiv steht bereits seit einem Jahr fest. Es ist das Konterfei einer Figur aus der britischen Fernsehserie „Peaky Blinders“, die im Birmingham der 20er-Jahre spielt. Dieser Schauplatz hat Anika Hamacher in den Bann gezogen. Sechs Stunden muss sie auf dem Tätowierstuhl durchhalten. In einem nächsten Termin sollen weitere Motive der Serie auf den Unterarm.
Mit Seefahrerromantik – Meerjungfrauen und brennenden Herzen – haben Tattoos heute nicht mehr viel zu tun. Tattoos sind eine Kunstform. Es gibt Messen mit international gefragten Künstlerinnen und Künstlern. „Manche Menschen tragen richtige Kunstsammlungen auf dem Körper“, sagt Tobias Tietchen.
Kunden oft aus kreativen Berufen
Was früher Subkultur war, ist heute salonfähig. „In den letzten Jahren hat sich da richtig viel verändert“, erzählt Sarah-Ann Tietchen. Für viele Arbeitgebende stellen Tattoos kein Problem mehr dar, und in den Drogeriemärkten stehen Pflegeprodukte für tätowierte Haut in den Regalen. Tätowierer ist in Deutschland kein Lehrberuf. Das Handwerkszeug wird autodidaktisch erlernt oder von etablierten Tätowierenden vermittelt. Und anders als noch vor einigen Jahren sind es heute überwiegend Frauen, die in dieses Berufsfeld einsteigen. Der Kundenstamm im Atelier Tietchen ist zwischen 25 und 40 Jahre alt. Es sind überwiegend Menschen aus kreativen und sozialen Berufen.
Auch Anika Hamacher arbeitet in einem kreativen Berufsfeld. Sie ist Dekorateurin in Mönchengladbach und gestaltet bundesweit Räume und Verkaufsflächen. Tätowieren lässt sie sich, was ihr ästhetisch gefällt. Ob ein Motiv lebenslang zu ihr passt, ist nicht entscheidend. „Danach gehört es einfach zu mir“, sagt die 29-Jährige. Mit einer Ausnahme. Ihr rechtes Schienbein ziert eine Fackel. Auch dieses Tattoo hat Tobias Tietchen gestochen. Darunter verbirgt sich ein älteres Motiv.
Motive selbst sind kleine Zeitreisen
„Das war mal ein gebrochenes Herz“, erzählt Anika Hamacher. „Das stand für einen Verlust. Aber irgendwann wollte ich das nicht mehr.“ „Makeover“ heißen solche Tattoos, die frühere überdecken. „Das kommt eher selten vor“, sagt Tobias Tietchen. „Tätowierungen wachsen mit einem mit.“ Unmittelbar nach dem Termin für die Fackel bekam Anika Hamacher die Nachricht vom plötzlichen Tod eines Menschen aus ihrem Bekanntenkreis. „Jetzt steht das Tattoo in gewisser Weise wieder für einen Verlust“, erzählt sie.
Auch Motive selbst sind kleine Zeitreisen. Typisch für die 90er-Jahre sind zum Beispiel Tribals über dem Steißbein oder der Stacheldraht um den Oberarm. Jede Zeit hat ihre Mode. Ein Trend sind derzeit „Fine-Line-Tattoos“, also Motive aus feinen Linien und filigranen Elementen. Das Atelier Tietchen hat einen anderen Stil, bunt und großflächig. „Der eigene Stil ist wie die persönliche Handschrift. Man entwickelt einen bestimmten Schwung der Linien oder verwendet wiederkehrende Elemente“, erklärt Tobias Tietchen.
Manchmal muss man die Personen schützen
Das Tätowierer-Paar lehnt auch mal Anfragen ab. Wenn die Vorstellung der Kundinnen nicht mit der Stilrichtung des Ateliers zusammengehen. Oder wenn Kunden sehr jung sind und im Beratungsgespräch der Eindruck entsteht, dass der Wunsch nicht ausreichend durchdacht ist. „Manchmal muss man die Personen auch schützen“, sagt Sarah-Ann Tietchen. Denn wer tätowiert ist, zieht Blicke auf sich, schmeichelhafte und unangenehme, und erntet ungebetene Kommentare. „Das muss man wissen und aushalten können“, sagt Sarah-Ann Tietchen.
Ein bis zwei Kundinnen am Tag werden im Atelier Tietchen tätowiert. Auf einen Termin wartet man bis zu einem Jahr. Der Großteil der Kundschaft sind Stammkunden. „Man begleitet Menschen oft über Jahre“, erzählt Tobias Tietchen. „Da wächst auch ein Vertrauensverhältnis.“
Anika Hamacher bestätigt das. „Wenn man einmal jemanden gefunden hat, wechselt man nicht mehr. Schließlich bleibt so ein Tattoo ein Leben lang auf dem Körper.“ Zwei Stunden hat Anika Hamacher noch vor sich. Die Haut um die schwarzen Linien und grauen Schattierungen ist gereizt und rot. Doch die Farbe kommt erst jetzt. „Aber wenn man hier rausgeht, hat man schon vergessen, dass man gelitten hat.“