Oft sind es äußere Faktoren, die dem Lebensweg eine andere Richtung geben. Wie man trotzdem selbstbestimmt lebt: im neuen Himmel & Elbe.
Man könnte denken, dass es jemandem, der in knapp einer Woche mit Depressionen in eine Psychiatrie geht, schwerfällt, einen Text über selbstbestimmtes Leben und Handeln zu schreiben. Das Gegenteil ist der Fall. Wäre ich nicht vor einigen Jahren zusammengebrochen, würde mir dazu wohl wenig einfallen. Leben und Handeln, das war für mich immer gleichbedeutend mit dem Streben nach Erfolgen, nach Bestätigung. Ich weiß nicht, wer mich darauf gebracht hat. Aber von außen sah es nicht schlecht aus: Ich hatte eine kleine Karriere bei einer großen Nachrichtenseite, hatte Bücher geschrieben und dafür einige Preise bekommen. Da war diese kluge, witzige Frau, die mich liebt und mit der ich mittlerweile zwei Kinder habe.
Doch von innen war dieser freundliche, smarte, vielleicht ein wenig zu perfektionistische, manchmal merkwürdig übermotivierte junge Mann ausgehöhlt, unglücklich, verzweifelt und voller Selbstverachtung. Wenn meine Frau unseren giggelnden Sohn ins Bett brachte, lag ich daneben auf dem Teppich und starrte unendlich müde und voll mit einer Traurigkeit, die ich nicht verstand, an die Decke. Einmal fragte meine Frau, ob ich glücklich sei. „Ich bin ein unglücklicher Mensch“, sagte ich ein bisschen pathetisch, aber vollkommen richtig, „der mit Glück überschüttet wird.“
Immer gearbeitet für eine lückenlose Biografie
Wie war ich nur an diesem Punkt gelandet? Ich hatte doch alles richtig gemacht. Immer gearbeitet, immer alles getan, um eine lückenlose Biografie hinzulegen, eine stete Aufwärtskurve von einem Leben. Nur muss ich darüber irgendwie aus den Augen verloren haben, was ich wollte. Heute glaube ich, dass ich gar nicht wusste, was ich wollte, sondern nur, was man wollen soll. Mein Leben raste auf Schienen dahin, die nicht meine waren, und lief auf etwas hinaus, das ich nicht ertragen konnte. Im Rückblick bin ich noch immer erschrocken, wie lang ich durchgehalten habe.
Irgendwann kam jedenfalls der Zusammenbruch. Ich habe mich nie wieder ganz davon erholt. Und vielleicht ist das gut. Denn er hat mein Leben besser gemacht. Nicht sofort. Aber mit der Zeit. Nach Wochen in der Klinik, nach der Diagnose „schwere Depression“, nach Monaten Therapie merkte ich, was mein Leben vorher war: ein Balanceakt auf einer Rasierklinge, angespannt bis zur Erstarrung, links und rechts wütende Abgründe.
Abstürze, Selbstverachtung und Verzweiflung
Mit der Krankheit, dem Nicht-mehr-Funktionieren, wurde mein Blick auf mein Leben ruhiger und weiter. Das dauerte Jahre und dauert noch immer an. Aber ich merkte, dass es andere Sachen gibt, als immer weiterzumachen. Dass das Leben reicher ist als Karriere, Sachen anhäufen, hinter Bestätigungen herrennen. Ich will es nicht beschönigen. Ich bin saukrank. Ich nehme morgens und abends Tabletten, von denen ich glaube, dass sie immer weniger helfen. Wo andere Stimmungsschwankungen haben, habe ich Abstürze in Selbstverachtung und Verzweiflung.
Seit Anfang April war ich nicht mehr bei der Arbeit. Im Frühjahr war ich in einer Klinik, nächste Woche werde ich es wieder sein. Klingt schlimm? Ja, finde ich auch. Aber ich weiß eben auch, dass ich viele Jahre an mir vorbeigelebt habe. Jetzt habe ich statt Schienen einen Weg voller Schlaglöcher und Sackgassen. Aber heute bin ich glücklich. Krank, aber glücklich, könnte man sagen. Klingt schräg. Aber stimmt. Und genauso richtig ist, dass ich vorher krank und unglücklich war, ohne es zu kapieren. Einfach, weil ich dachte, so geht halt ein Leben.
Alexandra Schrader will nach dem Abi reisen, dann kommt Corona
Im Februar 2020 bin ich 18 geworden. Mindestens zwei Jahre hatte ich drauf gewartet, endlich mit meinen Freunden in den Hamburger Clubs feiern gehen zu können. Ganz legal mit Ausweis. Generell: 2020 – das sollte mein Jahr werden! Unser Jahr! Im Frühjahr Abitur, dann entspannen, auf Musikfestivals gehen und Ende 2020 nach Australien, Neuseeland, Thailand reisen – oder an all die Orte, an die meine Füße und mein Kopf mich tragen würden. Die neu gewonnene Freiheit leben. Das war mein Plan. Bis Corona kam und erst mal alles über den Haufen warf.
Nicht, dass ich acht Monate vorher schon etwas gebucht gehabt hätte ... Aber seit der Oberstufe tanzte ich in meinem Kopf nach dem Abi an Stränden, lernte bei „Work and Travel“ neue Jobs und Leute kennen. Ich wollte mich dort selbst finden (oder so ähnlich) und danach wissen, was ich studieren, wer ich werden wollte.
Doch anstatt sich mir zu öffnen, verschloss die Welt sich im Frühjahr 2020 mehr und mehr. Die Pandemie nahm an Fahrt auf, Länder und Menschen verbarrikadierten sich.
Ab in die Unabhängigkeit - Pustekuchen!
Meine Freunde und ich mussten mitansehen, wie nach und nach alles ins Wasser fiel, worauf wir uns während der letzten Schuljahre gefreut hatten. Dieses Corona kam einfach und nahm uns das Abimusical, den Abiball, die Abireise nach Spanien, die letzten Unterrichtsstunden, in denen wir uns freuen wollten, dass es die letzten waren. Die Schulzeit ging zu Ende, ohne dass wir uns wirklich von ihr verabschieden konnten.
Danach ausziehen, sich in der Welt verteilen und alles neu starten – das war der Plan. Ab in die Unabhängigkeit. Sich in WGs, in anderen Städten von zu Hause lösen, selbstbestimmt sein. Das Geschirr dann wegräumen, wenn ich es möchte. Das kochen, worauf ich Bock habe, auch wenn meine Mutter es besser kann. Die Musik so laut drehen, bis meine ganz eigenen Nachbarn von unten gegen die Decke klopfen. All das blieb erst mal aus. Und obwohl wir wussten, dass wir uns glücklich schätzen konnten, gesund zu sein, waren wir traurig. Alle Pläne waren weg – und jetzt?
Alles wendet sich plötzlich zum Positiven
Ich bemühte mich um Praktika, schrieb Bewerbungen, rief Unternehmen an, aber durch die Pandemie war es einfach schwierig. Die einzige Praktikumszusage bei einer Tageszeitung wurde einen Monat später wieder abgesagt. Und dann kam doch alles anders: Über die Mutter eines Freundes begann ich Anfang November plötzlich von einem Tag auf den anderen ein journalistisches Praktikum. Danach bot der Redaktionsleiter mir an, als freie Journalistin weiterhin Artikel für die Zeitung zu schreiben. Alles änderte sich auf einmal – zum Positiven.
Seit ich 14 Jahre alt war, hatte ich überlegt, wie ich es irgendwann einmal in den Journalismus schaffen könnte ... Also fing ich an, regelmäßig Artikel zu schreiben. Im Juni 2021 bewarb ich mich dann um ein zweijähriges Volontariat bei der Zeitung. Seit Anfang August bin ich jetzt in der journalistischen Ausbildung zur Redakteurin. Darüber freue ich mich immer wieder. Das war meine eigene Entscheidung, das ist jetzt „mein Ding“. Und jetzt? Kann ich immer noch in eine WG ziehen und warten, bis das Geschirr sich stapelt. Immer noch weggehen. Reisen und Studium können immer noch kommen, wenn ich möchte. Und ich werde auch so herausfinden, wer ich bin, wohin ich will. Trotz aller Schwierigkeiten: Ich habe meinen eigenen Weg erst mal gefunden