Menschen hatten schon immer das Verlangen, ihrer Toten zu gedenken. Christliche Feiertage, Kirchen und Gottesdienste können dabei helfen, inne- und Rückschau zu halten
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einen Urgroßvater habe ich nie kennengelernt. Er starb lange bevor ich geboren wurde. Seinen Namen kenne ich vom Grabstein, von dem ich auch weiß, wann er geboren wurde und wann er starb. Immer zu Allerheiligen (1. November) besuchten mein Großvater, mein Vater und ich das Grab. Es berührte mich nicht nur, die beiden traurig zu sehen, sondern auch, ihre Geschichten über den Urgroßvater zu hören. Es waren Erinnerungsfetzen an gemeinsame Feste und Erlebnisse, an Eigenarten und Liebenswürdigkeiten. Fast immer waren es die gleichen, und doch wurden sie nie langweilig. Nach den Friedhofsbesuchen gingen wir „Seelenspitzen“ kaufen, ein besonderes Bamberger Gebäck, was es eigentlich nur im November gibt. „Das gehört dazu“, sagten mein Großvater wie mein Vater und verwiesen dabei auf die Autorität des Urgroßvaters. Ihr Geschmack, die Geschichten und der Grabstein mischen sich heute zu Erinnerungen, die mir guttun. Sie spitzen meine Seele an, meine Gegenwart in einem anderen Licht zu sehen und sie weiterzuerzählen.
Das Verlangen, der Toten zu gedenken, ist einer der Grundimpulse menschlicher Erinnerungskultur. Es soll festgehalten werden, was fehlt. In den Erinnerungen leben die Toten weiter, lassen Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen. Den Tod muss man hinnehmen, aber gegen das Vergessen kann man sich wehren: Die Namen aufschreiben, die Geschichten erzählen, besondere Rituale pflegen und so eine Brücke zu den Toten schlagen. Besonders stark erweisen sich Erinnerungen dort, wo sie geteilt werden: in der Familie, im Freundeskreis oder in noch größeren Rahmen wie der Nachbarschaft, der Gesellschaft überhaupt. Erinnerungen suchen das Gespräch. Sie müssen auffindbar sein und zirkulieren, das rein Private verschluckt sie.
Erinnerungen brauchen Ankerplätze: Auf dem Rahlstedter Friedhof hat man erst vor Kurzem einen tonnenschweren Anker aufgestellt, um den Hinterbliebenen einen Ort zu geben, die an kein Grab gehen können. Neben Friedhöfen und Gedenkstätten können auch Zeiten wie Allerheiligen, Totensonntag oder bestimmte Jahrestage solche Ankerplätze sein. Regelmäßig laden sie ein, Rückschau zu halten. Hilfreich sind dabei Rituale, die dem Einzelnen wie der Gesellschaft helfen festzuhalten, was nicht vergessen werden soll: wenn Caritas und Diakonie am Totensonntag (26. November, 18 Uhr) in einem ökumenischen Gottesdienst in St. Bonifatius (Am Weiher) die Namen von verstorbenen Obdachlosen verlesen und Kerzen für sie angezündet werden. Oder wenn im Mutterleib verstorbene Säuglinge heute Namen und Begräbnis erhalten. Oder wenn Stolpersteine über die Namen der Menschen stolpern lassen, die in der Nazizeit ermordet wurden. Dieses Erinnern würdigt nicht nur die Toten, sondern auch die Lebenden.
Mit der Erinnerung an die Toten gehen die Erinnerungen an die Geschichte einher, in der sie lebten. Weil hier die persönlichen Erinnerungen vieler Zeitzeugen zusammenfließen, spricht man auch vom kollektiven oder kulturellen Gedächtnis. Um die Frage, wem oder für was ein Denkmal gesetzt werden soll, muss eine Stadt, ein Land streiten – zum Beispiel um den „Kriegsklotz“ am Dammtorbahnhof. Ohne ein solches Gedächtnis besteht die Gefahr, die immer gleichen Fehler zu begehen und am Gelungenen nicht weiterstricken zu können. Dabei geht es nicht darum, im Gestern verhaftet zu bleiben. Im Gegenteil: Erinnerung meint Vergegenwärtigung. Wenn ich als Generation der Kriegsenkel der Opfer gedenke, mag es auch um Fragen von Scham und Schuld gehen, aber in erster Linie um ein Lernen, wie ich heute Opfern von Krieg und Gewalt begegne. „Nie wieder!“ ist die Aufforderung aus der Vergangenheit, und umso klarer sie erinnert wird, umso sperriger ist sie in der Gegenwart. Wer die alten Parolen kennt, entlarvt sie auch dann, wenn sie als neue Slogans daherkommen.
In fast allen Religionen ist die Aufforderung zur Erinnerung zentral, so auch im Christentum: Neben Ereignissen aus der Tradition, wie gerade beim 500. Reformationsjubiläum, geht der Blick aber in erster Linie zurück auf die alten Texte: auf die aufgeschriebenen Geschichten, Erfahrungen, Klage- und Hoffnungslieder der Bibel. Nichts rettet die Erinnerung mehr, als sie aufzuschreiben. Es sind Erinnerungen an die Geschichte Gottes mit den Menschen samt der Aufforderung, diese nicht zu vergessen: „Erinnert euch! Haltet im Gedächtnis! Seid eingedenk!“ Kaum ein Wort wird öfter im Alten und Neuen Testament gebraucht. Erinnert werden soll, den Sabbat zu heiligen, die Zehn Gebote zu halten, die Namen und Lebenswege der Erzeltern zu kennen. Die Geschichte soll nach- und mitvollzogen werden, wenn das letzte Mahl Jesu sonntags als Abendmahl in der Gemeinde gefeiert wird: „Dies tut zu meinem Gedächtnis!“
Nach dem Theologen Johann Baptist Metz ist die kürzeste Definition von Religion Unterbrechung. Durch die Rückbesinnung wird die Gegenwart unterbrochen, hinterfragt und die Chance einer Neuausrichtung in die Zukunft eröffnet. So gesehen ist Erinnerung nie ein Stehenbleiben, sondern ein In-Bewegung-Kommen. Das Leben weitet sich. Ich erfahre mich als Teil einer größeren Geschichte, weil ich durch die Erinnerung Gast einer anderen Zeit sein darf; weil ich an einen Tisch eingeladen bin, den ich mir nicht selbst decken musste. Sich an die Leiden und Hoffnungen zu erinnern, wie sie in der Bibel aufgeschrieben sind, so der Theologe Fulbert Steffensky, schärft die Grundkenntnisse einer menschlichen Welt. Und der Glaube will trösten: Keiner wird vergessen. Gott erinnert über alle menschliche Zeit hinaus, schreibt die Namen ins ewige Buch des Lebens.
Christliche Feiertage, Gottesdienste und Kirchen können Einübungsräume von Erinnerungen sein. Sie helfen innezuhalten, leiten zur Rückschau an. Sie verbinden eigene Geschichte mit der uralten niedergeschriebenen. Als Kind war mir dies zu Allerheiligen auf dem Friedhof nicht bewusst: Ich las nur den Namen meines Urgroßvaters, lauschte den Geschichten, genoss die Seelenspitzen. Heute verbinde ich die seltenen Besuche mit dem Psalmwort: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“