Als Jazz-Musiker ist Giovanni Weiss eine Ausnahmeerscheinung. Schon als Jugendlicher bekam er ein Stipendium, heute ist er zweifacher Echo-Preisträger. Sein Talent sei ein Geschenk Gottes, glaubt der Spross einer Hamburger Sinti-Familie

in niedriges Blockhaus mit rot gestrichenen Holzlatten, auf dem Flachdach ein schmales, schräg aufgestelltes Holzkreuz, das ist die „Hütte der Geborgenheit“. Es ist die Kirche der größten Sinti-Familie Hamburgs, aus der der Jazzmusiker Giovanni Weiss stammt. Seit seinen Kindertagen hat sie den 35-Jährigen, der in der Siedlung nebenan in Wilhelmsburg groß geworden ist, geprägt.

Und obwohl der zweifache Echo-Jazz-Preisträger viel zu auswärtigen Auftritten unterwegs ist, besucht er auch heute noch so oft wie möglich die Gottesdienste am Sonntagabend.

Giovanni Weiss setzt sich auf einen der blauen Stühle in der Kirche. Ein schlichter Raum ohne Schmuck. Nur ein paar Spruchbänder mit biblischen Zitaten hängen an den Wänden. Neben dem Lesepult für die Predigt steht ein uraltes Klavier. „Im Gottesdienst wird auch gesungen, aber am wichtigsten ist das Wort“, sagt der Gitarrist.

Das Wort Gottes soll überzeugen. Seine Botschaft hat Giovanni Weiss schon früh kennengelernt, in den „Kinderstunden“ hier bei „Tante Gertrud“. Tante oder Schwester Gertrud, das war die Anrede für Gertrud Wehl von der Mission für Süd-Ost-Europa. „Sie kam in den 50er-Jahren zu unserer Familie, um uns zu bekehren. Aber die Ältesten lehnten das erst mal ab, sie waren misstrauisch“, berichtet Giovanni Weiss.

Doch dann kam 1962 die Flut. Damals lebte die Großfamilie auf einem Platz der Elbinsel in Baracken und Wohnwagen. „Als die Flut kam, sagten die Ältesten, wenn wir das überleben, dann glauben wir an Gott. Und was die Ältesten sagen, wird gemacht“, sagt Weiss ganz selbstverständlich. In der Sturmnacht flüchteten die Familienmitglieder in eine Schule. Nicht nur sie blieb unversehrt, „auch unser Wohnplatz war trocken geblieben“. Das war der Beginn der evangelischen Sinti-Gemeinde. In den 80er-Jahren zog der Familienclan, zum dem etwa 500 Mitglieder zählen, in eine Reihenhaussiedlung um, die die Stadt Hamburg für ihn gebaut hatte. Dort entstand auch die „Hütte der Geborgenheit“.

Giovanni Weiss wurde schon als Kind ein sehr frommes Mitglied der Gemeinde. „Mit acht Jahren habe ich mich entschieden, mein Leben Gott zu geben“, sagt er ernst. Er erinnert sich noch genau, wie ihm das bewusst wurde und er diese Erkenntnis Schwester Gertrud mitteilte. Seitdem ist er davon überzeugt: „Der Glaube hilft mir, damit ich nicht verloren gehe. Er bewahrt mich vor vielen schlechten Dingen.“ Regelmäßiges Beten gehört für ihn zum Tagesablauf, schon morgens frage er Gott: „Was ist heute dein Plan für mich?“ Das Gebet sei auch ein Dank, „dass ich hier lebe, dass ich gesund bin, dass ich Musik machen kann. Das ist alles nicht selbstverständlich“, sagt Weiss. Der Vater einer vierjährigen Tochter und der sechs Monate alten Zwillinge Miles und Davis gibt seinen Glauben an seine Kinder weiter – genauso wie seine Musik.

Die musische Begabung liegt in seiner Familie, die etliche bekannte Musiker hervorbrachte. Zu seinen Vorfahren gehört auch die Gypsy-Swing-Legende Django Reinhardt. So fing auch Giovanni Weiss schon mit vier Jahren an, Gitarre zu spielen, und entwickelte sich zu einer Art Wunderkind. „Mit 14 Jahren überlegte ich mir, an eine Musikhochschule zu gehen, aber dazu braucht man Abitur, und ich konnte noch nicht mal lesen und schreiben.“ Die Grundschule hatte er nur sporadisch besucht. „Als ich Kind war, sind wir noch viel mit dem Wohnwagen herumgereist“, sagt er. Inzwischen ist seine Familie sesshaft geworden. Einen Wohnwagen hat aber auch er hinter seinem Einfamilienhaus stehen, und wenn die Zeit es erlaubt, geht er mit seiner Frau und den Kindern noch auf Tour.

Als Jugendlicher lernte er das Lesen und Schreiben von seinem Großvater. Mit 16 Jahren bewarb er sich an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Ein Musiker hatte ihm den Tipp gegeben, dass man dort nach einer Aufnahmeprüfung ohne Abitur studieren könne. „Ich schickte ein Demo-Band ab und bekam tatsächlich eine Einladung zum Vorspielen.“ Ein stolzes Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab, während er sich erinnert: „Es gab 14.000 Bewerber und zwei Stipendiatenplätze, ich bekam einen davon und wurde mit 17 Jahren Jungstudent.“ Und dann fügt er fast gleichmütig hinzu: „Nach einem Jahr wurde mir ein Stipendium für ein zweijähriges Studium an einem Musik-College in Boston angeboten. Aber meine Eltern wollten mich nicht gehen lassen.“

Seiner Karriere schadete es nicht. Er tritt mit bekannten Jazz-Musikern wie Till Brönner auf, spielt mit der NDR-Bigband. Gewinnt Preise. Dabei wollte er ursprünglich gar nicht in die Öffentlichkeit, sagt Weiss bescheiden. Seine Entdeckung vor rund fünf Jahren war eher ein Zufall. Er hatte gerade die Band Django Deluxe mit seinem Bruder Jeffrey und seinem Cousin Robert Weiss gründet. „Wir machten mit der Band einige Aufnahmen zunächst nur für die Familie.“

Dann kamen sie auf die Idee, die Aufnahmen auch über YouTube zu verbreiten. „Dadurch ist eine Plattenfirma auf uns aufmerksam geworden, und wir bekamen einen Vertrag für das erste Album.“ Dafür gab es 2013 den Echo-Musikpreis für Jazz. Auch das zweite Album, das mit der NDR-Bigband entstand, wurde 2016 mit einem Echo prämiert. Zwei Alben, zwei Preise – andere würden abheben. Aber Giovanni Weiss bleibt auf dem Boden. Denn für ihn ist klar, wem er sein Talent zu verdanken hat. „Die Musik ist ein Geschenk Gottes“, sagt er. So ging sein Dank auf der Preisverleihung als Erstes an Gott und dann an die Familie.

Zum Abschluss des Festivals „Martinstage“ spielt Giovanni Weiss in der Martinstage-All-Star-Band „Reformation Songs“ am 13.11., 18 Uhr, St. Johannis Kulturkirche Altona, Bei der Johanniskirche 22