Christen, Juden, Aleviten, Buddhisten und Muslime - auf St. Pauli gibt es viele Glaubensgemeinschaften. Kirchen und Gemeinden treten zwar nicht an, das Rotlichtgewerbe zu bekehren – aber es gibt überall offene Türen. Von Irene Jung

uf St. Pauli betet doch keiner“ - das glauben viele. Überhaupt: Wie passt Religion zu Rotlichtmilieu, Saufmeile und Massentourismus? Pfarrer Sieghard Wilm von der St.-Pauli-Kirche am Pinnasberg muss grinsen. „Gegensätze und Widerstandsgeist gehören auf St. Pauli zum Kulturerbe“, sagt er. Auch bei den Kirchen. Auf St. Pauli herrschte immer ein Kommen und Gehen, längst ist der Stadtteil international. Und die St.-Pauli-Kirche stellt sich auf den Wandel ein: In der Kita spielen Kinder aus drei Kontinenten miteinander, in der Jugendsozialarbeit kommen täglich mehr als 40 Jugendliche mit Wurzeln in Europa, Nordafrika und Asien zusammen. Auf dem Kirchhof erinnert der bunte Bauwagen mit dem Schriftzug „Embassy of ­Hope“ an die 80 Lampedusa-Flüchtlinge, die 2013 in der Kirche Zuflucht fanden.

Noch in den 1990er-Jahren galt diese Kirche als Auslaufmodell, sogar eine Schließung wurde diskutiert. Heute ist das Gotteshaus nicht nur bei plattdeutschen Liedern, Tangomusik oder Jazz rappelvoll. „Am letzten Sonntag hatte ich 40 Kinder und 100 Erwachsene im Gottesdienst“, sagt Wilm. Seine Kirche eckt an, setzt sich auch Kritik aus. Das muss so sein, findet er: „Die Kirche ist im Kern ein Ort des Glaubens. Aber das Wort bleibt leer ohne Taten.“

Auch Pfarrer Karl Schultz, der mit der nahen Friedenskirche kooperiert, blickt auf eine sehr internationale Gemeinde, wenn er in der katholischen Kirche St. Joseph die Messe liest. 40 Prozent der Gemeindemitglieder haben einen Migrationshintergrund. „Aber die katholische Kirche ist ja eine Weltkirche.“ Auf St. Pauli lautet Pfarrer Schultz’ Prinzip: Jeder, der möchte, kann kommen.

Auch Zuhälter geraten mal in seelische Notlagen und brauchen Beistand

Zum Beispiel zu „St. Joseph by Night“: Am ersten Sonnabend im Monat öffnet der Pfarrer die schöne Barockkirche von 21 bis 24 Uhr für Nachtschwärmer. Ein harter Kontrast: draußen laute Discomusik und Neonreklamen – drinnen leise Musik und Kerzenschein. Zwischen 120 und 500 Menschen nutzen das Angebot jedes Mal. „Viele sind verblüfft, dass die Kirche offen ist“, sagt Schultz. „Jeder entscheidet selbst, ob und wie lange er bleibt. Das ist die große Freiheit.“

In der Großen Freiheit 41 ist auch die Polnische Katholische Mission zu Hause, die ebenfalls die Kirche St. Joseph nutzt. Und bevor die neue Mevlana-Moschee 2015 in der Rindermarkthalle eröffnet wurde, war deren Imam Mehmet Yilmaz mit seiner muslimischen Gemeinde an der Großen Freiheit 74 untergebracht – in einem heizbaren Zelt.

Man respektiert sich gegenseitig auf dem Kiez. Kirchen und Gemeinden treten nicht an, das Rotlichtgewerbe zu bekehren. Umgekehrt geraten selbst Zuhälter mal in seelische Notlagen, brauchen Beistand, werden alt und krank. Und dann geraten sie wie alle anderen an die Diakonie St. Pauli. Norbert Götze organisiert mit drei weiteren Einsatzleitern der Diakonie rund 100 Mitarbeiter, die täglich 260 Pflegekunden zwischen City und Altona betreuen, dazu kommen FSJler und Ehrenamtliche, die Behinderte begleiten oder Hospizarbeit leisten. Götze muss man nach seiner Identität gar nicht lange fragen – auf seinem T-Shirt steht „FCSP“, das Kürzel des FC St. Pauli. Er ist im Viertel geboren, sein Vater arbeitete im Hafen. „Auf St. Pauli leben viele arme, alleinstehende Menschen, alte Tänzerinnen, Prostituierte, Kellner, ehemalige Seeleute, ein Sammelsurium kurioser Lebensläufe“, sagt er. Viele sind krank, einsam, verschuldet. Für Götze und seine Kollegen spielen Alter, Religion, Herkunft oder sozialer Status ihrer Klienten allerdings keine Rolle. „Respekt und Wahrung der menschlichen Würde bei allen Begegnungen“ gehören zum Leitbild der Diakonie.

In der Talstraße 13 bereiten sich Horst und Anette Janowski vom Missionsteam der Heilsarmee auf ihre Gäste vor. Ab 16 Uhr gibt es in der Tagesstätte ein Abendbrot, dazu Kaffee oder Tee und heute sogar selbst gemachte Bananenmilch. Das Publikum ist bunt gemischt – alte Berber mit biblischen Gesichtern, rumänische Musiker, Altrocker, Rentner, obdachlose Männer und Frauen. „Heute kommen weit mehr Gäste als noch vor zwei Jahren“, sagt Anette Janowski, „im Schnitt täglich 80, an Wochenspitzen über 100.“ Suppe, Seife, Seelenheil – die Heilsarmee gehört zu St. Pauli wie Rotlicht und Blaulicht: Seit 1922 residieren die „Soldaten Gottes“ in dem großen Backsteinhaus. Heute bieten sie auch Haareschneiden, Handyaufladen und eine Kleiderkammer. Während sonst alles auf dem Kiez laut ist, wirkt die Heilsarmee leise und effektiv. Sogar beim Schlagermove ist die Heilsarmee präsent: Sie bietet Feierwütigen kostenlose, saubere Toiletten, Brechkübel und heißen Tee – „auch das ist praktische Nächstenliebe.“

Ähnlich bodenständig denken die Mitarbeiter der „Alimaus“ am Nobistor. In dem roten finnischen Holzhaus des katholischen Hilfsvereins St. Ansgar werden täglich 400 bis 500 Bedürftige mit Essen versorgt. Freiwillige aus dem ganzen Erzbistum Hamburg unterstützen das Projekt. Bis vor Kurzem kümmerten sich drei Ordensschwestern um die Kleiderkammer „Don Alfonso“, um die Krankenstube „Nobis bene“ und um die Küche. Jetzt treten andere Ehrenamtliche in ihre Fußstapfen. „Es geht weiter im christlichen Sinn“, so Alimaus-Leiter Holger Triebel. Schräg gegenüber am Nobistor 33 hat die Alevitische Gemeinde Hamburg ihren Sitz. Begründet wurde sie 1989 im Audimax, sagt Gemeindevorsteher Nurali Demir, und hat heute 670 eingetragene Mitglieder plus Angehörige. Die Aleviten verehren zwar auch den Propheten Mohammed und dessen Schwiegersohn Ali, aber nicht alle rechnen sich selbst der muslimischen Glaubensgemeinschaft zu. „Für uns ist Gott eine Energie, die in allem ist, auch in jedem Menschen“, sagt Demir. In der Türkei werden die Aleviten nicht als eigenständige Religion anerkannt und diskriminiert, weshalb sie nur in der Diaspora ihre lebendige Kultur wieder beleben konnten. Höhepunkt ist die Cem-Zeremonie, bei der ihre traditionellen religiösen Lieder eine zentrale Rolle spielen. „Männer und Frauen sind bei uns gleichberechtigt, sie beten und tanzen gemeinsam“, erklärt Selvihan Sönmez vom Vorstand stolz. Etwas mehr für sich ist die Islamische Gemeinde Nobistor e. V. mit ihrer Yeni-Beyazit-Camii-Moschee am Nobistor 40.

Am Hans-Albers-Platz 17 über dem lauten Scandinavian Club rührt Evelyn Krepele gerade Kakao an. Mit anderen Freiwilligen von der Teestube Sarah geht sie regelmäßig mit Einkaufswagen und Tragetaschen auf Tour: Sie verteilen Kakao, Tee, Süßigkeiten und Kondome an Sexarbeiterinnen – im Sperrgebiet von St. Pauli und auch auf dem Autostrich Süderstraße. „Prostituierte werden oft respektlos behandelt“, sagt Krepele. „Ich möchte den Frauen von Mensch zu Mensch begegnen, absichtslos.“ Die Teestube Sarah, offiziell Ökumenischer Dienst St. Pauli e. V., gibt es schon seit 36 Jahren. Gegründet hat sie der christlich motivierte Werftarbeiter Otto Oberforster. Heute gehören zwölf Freiwillige zu der kleinen Gemeinschaft, unter anderem eine Schiffsmaklerin, ein Pfarrer, eine Küchenkraft, eine Paartherapeutin, ein Physiker. Einmal im Monat feiern sie gemeinsam eine Andacht im Taizé-Stil. Kuno Kohn ist schon seit 1981 dabei. „Das hat mich damals gepackt, weil es was Grottenehrliches hat“, sagt er. „Wir missionieren nicht, wir machen die Frauen nicht zu Opfern, sondern wir akzeptieren sie einfach. Oft berichten sie uns, welche Kollegin krank oder schlecht drauf ist. Oder es geht um eine Brust-OP, ob nun Größe B oder C besser wäre.“

Prostituierte finden im „Sperrgebiet St. Pauli“ einen Schutzraum

Rat in allen Lebenslagen finden Sexarbeiterinnen auch bei Andrea Klug und Maike Hahnke im „Sperrgebiet St. Pauli“. Die Beratungsstelle des Diakonischen Werks in der Seilerstraße bietet Hilfe, wenn es um Steuern, Krankenversicherung, Schulden, Gewalt oder Alltagssorgen geht oder auch um eine berufliche Umorientierung. Das gemütlich eingerichtete Ladenlokal ist ein Schutzraum, in dem Männer (also auch Zuhälter) während der Öffnungszeiten keinen Zutritt haben. Und: Hier herrscht Diskretion. „Manche jungen Frauen finden die schöne bunte Glitzerwelt am Anfang toll“, sagt Andrea Klug. „Aber sie wissen nicht, welche Auswirkungen die Prostitution nach sich zieht.“ Die Beraterinnen im „Sperrgebiet“ versuchen, die Frauen in ihrer Eigenständigkeit zu stärken. „Wir unterstützen sie darin, Selbstsicherheit zu gewinnen und ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Es tut den Frauen gut, über ihre Lage vertraulich mit jemandem zu reden und zu merken: Die stehen hinter mir.“

Auch die Liberale Jüdische Gemeinde ist wieder auf St. Pauli zu Hause. Den Sabbat feiert der eingetragene Verein mit 500 Mitgliedern allerdings nicht mehr regelmäßig im Betsaal des ehemaligen Israelitischen Krankenhauses an der Simon-von-Utrecht-Straße, einer Stiftung von Salomon Heine, sondern meistens im modernen Jüdischen Kulturhaus im Karo-Viertel. Vor 200 Jahren entstand in Hamburg die älteste Reformgemeinde der Welt, sagt Landesrabbiner Moshe Navon. Die Nazis haben sie vernichtet. „Unsere kleine Gemeinde erbringt eine wichtige Leistung, weil sie zeigt, dass das Reformjudentum zurückkommt.“

Es gibt noch weitere kirchliche Einrichtungen auf dem Kiez, aber der letzte Besuch geht ins Buddhistische Zentrum an der Thadenstraße. Dort hat gerade eine Meditation begonnen. 90 Menschen sitzen auf Kissen vor der Figur des Buddha Shakyamuni und lauschen Daniel Galitzien, der die Übung leitet. Seit 2002 ist das moderne Gebäude mit Innenhof der Mittelpunkt. Rund 40 Bewohner des Zentrums kümmern sich um einen Shop, eine Bibliothek und das Café. Regelmäßig gibt es Vorträge und donnerstags eine kostenlose Einführung in diese Linie des tibetischen Buddhismus. Auch Buddha hat seinen Platz auf St. Pauli.