Viele Menschen sehnen sich nach guter Nachbarschaft. Gemeinden können dabei zum Stadtteilzentrum werden, wenn sie sich mehr öffnen, sagen die Experten Frank Düchting und Prof. Ingrid Breckner
Oliver Schirg
er Pädagoge Frank Düchting ist an der Evangelischen Akademie der Nordkirche Studienleiter für den Bereich „Kirche in der Stadt“ und hat die Schrift „Den Stadtteil mitgestalten“ verfasst. Prof. Dr. Ingrid Breckner lehrt an der HafenCity Universität Stadt- und Regionalsoziologie, einer ihrer Schwerpunkte ist die Erforschung von Nachbarschaften.
Hamburger Abendblatt: Was bedeutet für Sie gute Nachbarschaft?
Prof. Ingrid Breckner: Ich würde Nachbarschaft als einen großen Sehnsuchtsbegriff bezeichnen. Die Menschen wünschen sich mehr soziales Miteinander, wollen aber zugleich nicht auf die Erfüllung ihrer Wünsche und mehr Individualisierung verzichten. Man möchte Teil der Gemeinschaft sein, aber auch sein eigenes Ding machen. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir leben.
Frank Düchting: Menschen helfen sich, gestalten gemeinsam die Freizeit, feiern Feste zusammen, Ältere lesen Kindern vor: Im Kern geht es darum, dass soziale Ressourcen für das Gemeinwohl genutzt werden. Das verstehe ich unter guter Nachbarschaft. Schlechte Nachbarschaft hingegen landet vor Gericht.
Gibt es weniger Streit und mehr Gemeinschaft, wenn die Menschen alle derselben Gesellschaftsschicht angehören und die gleiche Nationalität haben?
Prof. Ingrid Breckner: Durchmischung von Wohngebieten ist sicher ein umstrittenes Thema. Die Politik will keine Wohngebiete, in denen nur arme oder nur reiche Menschen, nur Migranten oder nur Nichtmigranten leben. Die Erfahrung zeigt, dass ein derartiger Zustand nur mit großem finanziellen Aufwand herstellbar ist. Es gibt ja nicht nur gute oder weniger gute Stadtteile, sondern angesagte und weniger angesagte. Es geht also nicht immer nur um soziale Kriterien. Aber durchmischte Stadtteile sind in der Tat Orte, an denen Menschen lernen, Unterschiede auszuhalten. Das funktioniert im Stadtteil Ottensen ganz gut.
Ähnliche Milieus sind also nicht erstrebenswert?
Prof. Ingrid Breckner: Es mag sein, dass die Herkunft aus demselben Milieu weniger Störeffekte mit sich bringt. Aber deshalb muss ein ähnliches Einkommen nicht gleich mehr Gemeinsamkeiten bedeuten. Der eine hat kleine Kinder, der andere nicht. Der eine putzt den Hausflur, der andere nicht. Nein, aus einem ähnlichen Milieu zu stammen ist keine Garantie für stabile Nachbarschaft. Auch die Lebensentwürfe, charakterlichen Ausprägungen oder gemachte Erfahrungen spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Frank Düchting: Gute Nachbarschaften werden häufig über ein gemeinsames Drittes vermittelt. Wenn Menschen sich in einer Initiative zur Gestaltung des Quartiers zusammenfinden oder gemeinsam darüber nachdenken, was man für die Unterbringung von Kriegsflüchtlingen tun sollte, das ist etwas, das verbinden kann. Gibt es einen inhaltlichen Kern, dann entwickelt sich eine Gemeinsamkeit, bei der beispielsweise Einkommensunterschiede eine geringere Rolle spielen.
Prof. Ingrid Breckner: Ein gutes Beispiel sind die Baugemeinschaften. Bevor das Haus fertig gebaut ist und die Mitglieder einziehen, dauert es in der Regel bis zu acht Jahre. In dieser Zeit klärt sich vieles. Die Menschen lernen sich kennen, und sie lernen den Umgang miteinander. Jene, die am Ende dabei bleiben, haben zumindest eine belastbare Grundlage für eine gute Nachbarschaft.
In Hamburg wird derzeit viel gebaut: Othmarscher Höfe, HafenCity oder künftig die Neue Mitte Altona. Wie kann sich dort gute Nachbarschaft entwickeln?
Prof. Ingrid Breckner: Das hängt unter anderem auch von den „Investoren“ ab. Private Gesellschaften sind vor allem am Verkauf der Wohnungen interessiert und denken nicht viel über Nachbarschaft nach. Genossenschaften, die zwischen 30 und 50 Jahre mit dem neuen Wohnungsbestand zu tun haben werden, stellen dagegen längerfristige Überlegungen darüber an, wie es gelingen kann, dass die Menschen einigermaßen miteinander klarkommen. Deshalb bieten Genossenschaften ein Sozialmanagement und Räume für gemeinsame Treffen an.
Die HafenCity galt in ihren Anfangsjahren als Prestigeprojekt wohlhabender, entsolidarisierter Menschen. Hat sich dort überhaupt Nachbarschaft entwickelt?
Prof. Ingrid Breckner: Die HafenCity ist weitaus besser als ihr Ruf. Die Entwicklung von Nachbarschaft läuft richtig gut. So hat beispielsweise die Genossenschaft Bergedorf/Bille dafür gesorgt, dass dort Familien mit Kindern einziehen konnten. Zudem ließen sie eine Wohnung frei, in der sich die Nachbarn treffen konnten. Die Bewohner vom Sandtorkai haben Lesungen oder Konzerte auf dem Hausflur organisiert.
Frank Düchting: Wichtig ist, dass Investoren Geld für gemeinsame Aktivitäten bereitstellen. Für den östlichen Teil der HafenCity, der in den kommenden Jahren errichtet wird, sollen Quartiersmanager eingestellt werden. Die können Aktivitäten koordinieren. Es fällt leichter, eine gute Nachbarschaft zu haben, wenn es bezahlte Organisatoren gibt.
Wieweit spielt Kirche in Stadtteilen noch eine Rolle?
Frank Düchting: Es hängt sehr davon ab, als was sich die Kirchengemeinde im Stadtteil versteht. Am Saseler Markt beispielsweise ist an das Gemeindehaus ein offenes Café angebaut worden, das zu einem Stadtteiltreff für viele Menschen geworden ist. Die Gemeinde hat bewusst entschieden, sich dem Stadtteil zu öffnen. Ähnliche Entwicklungen gibt es in vielen Gemeinden, zum Beispiel in Langenhorn und Lurup.
Wie sieht diese Entwicklung aus, wenn man ganz Hamburg betrachtet?
Frank Düchting: Sagen wir es so: Es könnte besser sein. Lediglich zwischen 30 und 50 Prozent der Kirchengemeinden in Hamburg arbeiten so weltoffen und verstehen sich als ein aktiver Teil des Stadtteils. Darin unterscheiden sich wohlhabende und weniger wohlhabende Stadtteile nicht.
Vergeben die eher zurückgezogenen Kirchengemeinden damit nicht eine Chance, ihren Glauben zu vermitteln?
Frank Düchting: Im Kern geht es um das Verständnis, was die Kirche in dieser Welt sein will. Ist sie nur für sich oder für alle Menschen da? Die einen sind der Meinung, das Evangelium gehöre auf den Marktplatz, auch indem man dort, in der Gesellschaft, Gutes tut. Andere wiederum beschränken sich darauf, dass ein Pastor die Predigten hält.
Prof. Ingrid Breckner: Ich beobachte in vielen Kirchengemeinden eine Öffnung im Sinne des interkulturellen Dialogs. Das Ökumenische Forum in der HafenCity etwa bietet den Studierenden islamischen Glaubens die Möglichkeit, in seinen Räumen zu beten.
Frank Düchting: Kirchengemeinden haben oft den Vorteil, dass sie im Zentrum des Stadtteils über Räumlichkeiten verfügen. In Neugraben hat man das Gemeindezentrum so gestaltet, dass es auch als Stadtteilzentrum geeignet ist. In Langenhorn wird die Kirche morgens von der Kita genutzt, abends tagt der Stadtteilbeirat dort, und zugleich ist sie ein Gebetsraum.