Marmstorf/Hohenfelde. Der Radprofi (und Fahrradkurier) Lucas Carstensen vom UCI-Kontinentalteam Bike Aid wird bei der Deutschen Straßenrad-Meisterschaft Sechster.
Der Magen knurrt, die Zeit drängt und im Kühlschrank herrscht mal wieder gähnende Leere. Wer sich in diesen Momenten gerne Essen nach Hause bestellt, kann spätestens dann aufatmen, wenn Lucas Carstensen an der Haustür klingelt. Der 26-Jährige ist Radprofi beim UCI-Kontinentalteam Bike Aid und dürfte ganz nebenbei zu den schnellsten Fahrradkurieren Hamburgs gehören. Am vergangenen Wochenende erreichte der gebürtige Marmstorfer und Teilzeit-Kurier bei der Deutschen Straßenrad-Meisterschaft auf dem Sachsenring einen beachtlichen sechsten Platz. „Der Kurierjob lässt sich natürlich ganz gut mit dem Training verbinden. Das ist aber nur ein relativ spontaner Nebenjob“, klärt Carstensen auf.
Hauptberuflich sei er weiterhin Radprofi. Neben diversen Kontinentalteams war bei der Straßenrad-DM auf dem Sachsenring auch das favorisierte World-Tour-Team Bora Hansgrohe mit den Stars Pascal Ackermann und Lennart Kämna am Start. Auf der 3,5 Kilometer langen Motorsport-Rundstrecke schafften es nur 95 der 200 Fahrer ins Ziel. „Die Strecke war echt hart, in jeder Runde gab es drei Anstiege. Außerdem wurde die ganze Zeit voll gefahren, weil es dort keine engen Kurven gibt“, sagt Carstensen.
Insgesamt legten die Fahrer in 48 Runden knapp 3900 Höhenmeter zurück. „Da es eine Rennstrecke war, konnte ich vorher nicht richtig einschätzen, wie meine Chancen sind. Im Sprint war ich dann aber nicht überrascht, dass ich unter den ersten zehn Fahrern lande. Vorher hätte das Feld aber auch auseinanderfliegen können“, resümiert der 26-Jährige.
Allein trainiert und ein bisschen als Kurier gearbeitet
Die Deutsche Meisterschaft war für viele Fahrer eines der ersten großen Rennen nach der Corona-Pause. „Im Frühjahr habe ich eigentlich nur allein trainiert und ein bisschen als Kurier gearbeitet“, erzählt Carstensen, der seit einigen Jahren in einer Vierer-WG im Hamburger Stadtteil Hohenfelde lebt. Als im Frühjahr sämtliche Rennen abgesagt wurden, habe er oft Langeweile gehabt. „Die Rennen habe ich nicht so sehr vermisst. Es waren eher die vielen Reisen und die gemeinsame Zeit mit den Jungs, die total gefehlt hat“, sagt Carstensen.
Normalerweise ist der 26-Jährige rund die Hälfte des Jahres bei Rennen auf der gesamten Welt unterwegs. Dabei nahm die Radsport-Karriere des sprintstarken Marmstorfers erst relativ spät Fahrt auf. Als Kind versuchte es Carstensen zunächst mit Fußball, Leichtathletik und Turnen – erst mit 13 Jahren meldete er sich schließlich bei der Harburger Radsport-Gemeinschaft (HRG) an.
„Im Nachwuchs habe ich überhaupt nichts gewonnen, kein einziges Rennen. Erst mit 18 habe ich dann Rennen gewonnen. Die große Entwicklung kam tatsächlich erst in der U23“, erinnert er sich. Dennoch – der endgültige Sprung zum Profi wollte zunächst nicht gelingen. Carstensen begann Betriebswirtschaftslehre (BWL) zu studieren und verdiente sich nebenbei als Amateur bei internationalen Rennen ein größeres Taschengeld dazu.
Plan vom Master-Studium erst einmal auf Eis gelegt
Der Schritt in ein World-Tour-Team („Ich weiß, dass ich nicht der nächste Peter Sagan bin“) schien trotzdem kaum realistisch. „2016 wollte ich dann einfach aus Spaß nur noch ein paar Rennen fahren. Dann lief es aber überraschenderweise richtig gut und ich habe den Plan vom Master-Studium erstmal auf Eis gelegt“, erzählt er.
Der lange Atem zahlte sich aus – mittlerweile fährt er seit zwei Jahren als Profi beim deutschen Kontinentalteam Bike Aid. Kontinentalteams starten nicht bei Rennen der UCI World Tour, zu der unter anderem die Grand Tours Giro d’Italia, Vuelta a España und Tour de France gehören, sondern bei den international zweit- und drittklassigen Straßenrennen der UCI ProSeries und der UCI Continental Circuits. „In den meisten anderen Kontinentalteams versuchen viele junge Fahrer einfach alles, um den Sprung in die World Tour zu schaffen.
Bei uns haben wir seit mehreren Jahren einen großen Stamm an erfahrenen Fahrern. Wir verstehen uns untereinander sehr gut und machen da als Team unser eigenes Ding“, sagt Carstensen. Die Hoffnung auf einen World-Tour-Vertrag sei einerseits zwar vorhanden,
andererseits aber verhältnismäßig gering. „Die größte Chance für mich wäre, wenn ich mit dem Team zusammen aufsteige. Langfristig ist das auch unser Ziel“, erklärt der 26-Jährige. Zurzeit fehlen dem Team noch zahlungskräftige Sponsoren, der Einstieg der türkischen Corendon Airline war zu Beginn der Saison ein wichtiger Schritt.
Bei der Rumänien-Rundfahrt sollen Etappensiege her
Was nach der Karriere folgen soll, sei derzeit noch völlig unklar. „Ich habe während meines BWL-Studiums mal ein bisschen bei einer Wirtschaftsprüfung gearbeitet, bin dann aber lieber beim Radfahren geblieben, obwohl ich damit deutlich weniger Geld verdiene“, sagt Carstensen. Im nächsten Jahr wolle er eventuell ein Masterstudium beginnen – dann aber nicht in BWL, sondern an der Sporthochschule Köln. „Der Studiengang heißt International Sport Development and Politics“, erzählt er.
Anstatt in die Zukunft, blickt Lucas Carstensen zurzeit hauptsächlich auf die Gegenwart. Die Saison kommt nach der Corona-Pause langsam wieder in Schwung. Die Höhepunkte im diesjährigen Rennkalender sind – so Corona will – Rundfahrten in Thailand und Guatemala. Zuvor steht in einer Woche die Rumänien-Rundfahrt an. „Dort möchte ich Etappen gewinnen. Danach geht es hoffentlich nach Thailand, wo ich ein bisschen auf die Gesamtwertung schaue“, sagt Carstensen. Bis zum Saisonende im Oktober liegt sein voller Fokus auf den internationalen Rennen. Danach dürfte der 26-Jährige auch wieder vermehrt Bestellungen ausliefern – als wohl fittester Fahrradkurier Hamburgs.
Sozialer Ansatz
Bike Aid ,das UCI-Kontinentalteam, verfolgt neben dem Profisport einen sozialen Ansatz. Neben verschiedenen Projekten in Afrika hat das Team unter anderen fünf afrikanischen Profis unter Vertrag. Die Fahrer kommen aus Kenia, Südafrika und Eritrea. Komplettiert wird das Team von mehreren deutschen, zwei niederländischen und einem schwedischen Fahrer. Die Teamsprache ist Englisch. Zurzeit können die afrikanischen Fahrer kaum an internationalen Rennen teilnehmen. Da viele Botschaften wegen der Coronavirus-Pandemie nicht ausreichend besetzt sind, erhalten sie oftmals kein Visum. „Das sind echt talentierte Jungs, die trotzdem so große Nachteile haben, weil sie aus Afrika kommen“, sagt Lucas Carstensen.