Wohlesbostel. Der Reit- und Fahrverein Estetal veranstaltete zum 20. Mal ein Fahrturnier für Ein- und Zweispänner.

Der Besuch beim Reit- und Fahrverein Estetal und seinem traditionellen Kutschenturnier ist alles andere als ein nostalgischer Rückblick in die schöne alte Zeit. Wer auf dem Turniergelände durch das Fahrerlager schlendert, wird nicht „Hoch auf dem gelben Wagen“ summen. Allein die Kutschen, ob nun für die Ein- oder die Zweispänner, sind stahlglänzende, technisch hochgerüstete Sportgeräte. Für sie werden Neupreise von 10.000 Euro und mehr aufgerufen. Dazu kommen die schweren, speziell umgebauten Transporter, in denen die Pferde, die Kutschen (jeweils eine für Dressur und Gelände), die Zelte und meistens auch ein Grill untergebracht werden müssen. Denn die Frauen und Männer, die die Zügel so meisterlich führen, sind gesellige Menschen.

„Diesmal feiern wir ein kleines Jubiläum“, sagt Torsten Hess, der Fahrwart des Vereins. „Vor 20 Jahren hat Estetal die ersten Prüfungen für Gespannfahrer ausgerichtet. Mit unseren mittelschweren Prüfungen der Klasse M für Ponys und Pferde sind wir inzwischen das ranghöchste Turnier zwischen Stade und Lüneburg.“

Aus ganz Norddeutschland sind Pferdefreude zusammen gekommen, die als Wettkampf das aufrecht erhalten, was den Menschen über Jahrtausende hinweg ein vergleichsweise bequemes Reisen erlaubte. Wir stehen am Rande von Hindernis vier, das zur Geländeprüfung gehört. Vor uns sind nach einem festen Muster dicke Stämme in den Boden gerammt. Sie müssen um- und durchfahren werden. In der Mitte ist ein kleiner Teich. Gestoppt wird die Zeit, die der Ein- oder Zweispänner benötigt, um alle ausgezeichneten Tore in dem Pfahl-Wirrwarr zu durchfahren.

„Marion kommt!“ Der Ruf lockt die Zuschauer zum Wasserhindernis. Marion Freymann, die bekannteste und erfolgreichste Fahrerin vom gastgebenden RFV Estetal, treibt ihr Pferd in das Hindernis. „Komm! Komm! Komm!“ Ihre Kommandos übertönen das Schnauben des Pferdes und das Rattern der Räder. Sie lenkt ihre junge Stute beängstigend knapp um einen der Stämme. Melissa Parge, ihre Beifahrerin, die hinten in der Kutsche steht, hängt sich weit heraus, hält die Kutsche so im Gleichgewicht. Als Barbie Millicent mitten durch den Teich soll, sieht es fast so aus, als würde das Tier abwehrend den Kopf schütteln. Die Chefin an den Zügeln wird energisch, setzt sich durch. Die hektischen Rufe, das Schnauben der Pferde, die am Holz vorbei schrammenden Wagenräder, das aufspritzende Wasser – als Zuschauer ist man gefesselt, fiebert und bangt auch mit. Ihr Applaus begleitet die Frauen aus dem Hindernis, von denen insgesamt fünf so schnell wie möglich durchfahren werden müssen.

Franz Schinder (75) aus der Schweiz
Franz Schinder (75) aus der Schweiz © HA | Volker Koch

Dass die Gespannfahrer eine enge und vertraute Gemeinschaft bilden, dafür liefern Marion Freymann und ihre 17 Jahre alte Beifahrerin ein fast schon familiäres Beispiel. Melissas Mutter Michaela Parge trainiert die Kutschfahrer der Fahrsportgruppe Elbe-Geest, die in Stelle ihre sportliche Heimat haben. „Ich bin Pferdewirtin genau wie Marion Freymann“, erzählt die Expertin. „Wir haben beide fast gleichzeitig unsere Ausbildung im gleichen Betrieb in Moisburg gemacht.“ Und beide Frauen begeistern seit Jahren junge Menschen für die Kunst des Gespannfahrens. Denn Marion Freymann leitet seit vielen Jahren die Zucht und den Fahrstall von Claus Quast in Neuenfelde. Der Chef hat seinerseits einen bekannten Namen in der Szene.

Die enge Verbundenheit in diesem Sport scheint selbst für die Pferde zu gelten. Barbie Millicent, die neue Hoffnung im Reitstall Quast, stammt aus eigener Zucht. „Ihre Mutter Halifax hat schon das Bundeschampionat der Einspänner gewonnen“, erzählt Claus Quast. „Auch sie ist in Woh­lesbostel dabei.“ Mit der Erfahrung von Halifax erfreut sich am Zügel Kiara Günther, die talentierte 15-Jährige aus Finkenwerder, der ersten Erfolge. In der Kombination – also Dressur, Hindernisfahren (eng vorbei an aufgestellten Hütchen) und Geländeprüfung – belegten Kiara und Halifax den fünften Platz. Sechste wurde Melissa Parge mit As Samoah. Beide Mädchen haben sich damit für die deutschen Nachwuchsmeisterschaften qualifiziert. Marion Freymann wurde mit Melissa Parge als Beifahrerin Zweite in der Kombination hinter Fokko Straßner mit Stradivari.

Eine Legende des internationalen Fahrsports

Selbst ein älterer Herr aus der Schweiz machte in diesem Jahr zum ersten Mal Station in Woh­lesbostel. Im internationalen Fahrsport sind der 75 Jahre alte Franz Schnider und sein schier unstillbarer Ehrgeiz längst eine Legende. Der Mann, der mit 40 Jahren arbeitslos wurde und mit 50 Jahren den größten Möbelhandel in der Schweiz aufgebaut hatte, tourt mit Isa Nasuf, einem jungen Physologen aus Albanien, und seinen sechs Kutschpferden in einem imposanten Transporter den Sommer über zu Turnieren in ganz Europa. Bei den Zweispännern kam er diesmal auf Rang 10.